Rezension über:

Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 448 S., 29 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30064-0, EUR 49,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Sebastian Bolz
Institut für Musikwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Bolz: Rezension von: Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/10/24715.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Sven Oliver Müller: Das Publikum macht die Musik

Textgröße: A A A

"Music matters" bilanziert Sven Oliver Müller seine Analyse des europäischen Musiklebens im 19. Jahrhundert (373). Dass Musik mittlerweile akzeptierter, intensiv beforschter Gegenstand der Geschichtswissenschaften ist, verdankt sich zu einem nicht geringen Teil einer Reihe von Projekten innerhalb des letzten Jahrzehnts, in der eine Gruppe von Historikern und Musikwissenschaftlern den Kulturgegenstand Musik diskutierte. Als eines ihrer produktivsten Mitglieder hat der Autor der vorliegenden Studie an der Etablierung dieser Debatte entscheidend mitgewirkt. Er war 2004 Mitinitiator eines Forscherverbundes [1], dessen Ergebnisse als "Grundstein" eines genuin historischen Beitrags zur Musikgeschichte galten [2], und ist seit 2010 Leiter eines Projekts zur Emotionsforschung [3]. Mit Das Publikum macht die Musik liegt nun Sven Oliver Müllers Anfang des Jahres an der Universität Bielefeld angenommene Habilitationsschrift vor.

Mit dem Publikum steht ein Teil der Musikkultur im Zentrum der Studie, der schwer zugänglich für historische Analysen erscheint und bislang allenfalls im Sinne der Rezeptionsforschung thematisiert wurde. Müllers Untersuchung in diesen Zusammenhang einzuordnen, griffe freilich zu kurz. Denn innerhalb der Musikkultur gilt nach Müllers Verständnis kein einfaches Sender-Empfänger-Modell; vielmehr stelle das Musikleben einen Kommunikationsraum dar, in dem alle Beteiligten, "Produzenten" wie "Rezipienten", als wechselseitig wirksame Gestaltungsfaktoren gelten müssten. Von dieser Prämisse ausgehend generiert Müller seine Quellenbasis aus Artikeln aus Politik-, Musik- und Unterhaltungsjournalismus. Er greift damit auf Dokumente zu, die meist als Zeugnisse ästhetischer Wahrnehmung gelesen, hier aber als ästhetische, vor allem aber als soziokulturelle und politische Programmträger herangezogen werden.

Müller visiert eine "Sozial- und Kulturgeschichte des Publikumsverhaltens" als Analyse seiner "Gestaltungsmacht" (8) an. In Verhalten und Bedeutung der Zuschauer spiegle sich, so Müllers These, die "soziale Wirklichkeit" - vor allem als "Ungleichheit" (365). Oper und Konzert gerieten dem Publikum selbst zur Bühne, auf der Macht- und Einflussstrukturen verhandelt und dabei Verhaltensmuster und Präferenzen als politische Bedeutungsträger inszeniert würden. Musikkultur wirke so als Medium gesellschaftlicher Strukturdebatten.

Liegen zur Sozialgeschichte der Musik des 19. Jahrhunderts bereits national fokussierte Studien vor, so darf als entscheidendes Verdienst von Müllers Untersuchung die komparatistische Perspektive gelten: Am Vergleich von Berlin, Wien und London zeigt sie strukturelle Parallelen innerhalb eines europäischen Raumes, der trotz national spezifischer Dispositionen funktionale Gemeinsamkeiten der Musikkultur erkennen lasse und somit die vielschichtigen Unterschiede der Länder transzendiere.

In vier Großkapiteln breitet Müller Belege für acht einleitend formulierte Hypothesen aus, die mithin die essentiellen Ergebnisse von Müllers Perspektive auf Musik abbilden: Dass musikalische Aufführungen und insbesondere ihr Publikum Gemeinschaften erzeugen (Hypothese 1), ist zwar entgegen Müllers Anspruch kein "Neuland" (9), sondern wurde in jüngerer Zeit verschiedentlich diskutiert [4]. Doch trägt die Arbeit Entscheidendes bei, indem sie die Gemeinschaften mehrfach konturiert: Unter dem Begriff des "Lebensstils" argumentiert Müller für eine Aufladung der musikalischen Öffentlichkeit mit sozialen Funktionen. In der Folge deutet er die Teilhabe an einem als wertvoll definierten Teilbereich der Öffentlichkeit als Distinktionskriterium (Hypothese 3). Er bezieht sich dabei kritisch auf das Bourdieusche Habitus-Konzept (101) und knüpft gewinnbringend an Konzepte der Konsumforschung an (64). Den Wandel dieser Öffentlichkeit (Hypothese 2), dessen Höhepunkt auf die Jahre 1820 bis 1850 datiert wird (Hypothese 4), versteht Müller als Verständigungsprozess über Bedingungen und Strukturen der Musikrezeption (Hypothese 5). Die Konstitution eines Kanons als Spiegel kulturellen Wissens, aber auch die "Erfindung des Schweigens" (217) ließen das Publikum letztlich als Urheber dessen, was in Oper und Konzert grundsätzlich hörbar wurde und damit als Agens erscheinen (Hypothese 7). Um die Perspektive auf die so anvisierten Musikkultur nicht zu beschränken, nennt Müller im Laufe seiner Studie zwar Unterschiede zwischen Opern- und Konzertbetrieb, schwächt diese allerdings zugunsten einer "Verflechtungsgeschichte" (17) der Möglichkeiten öffentlicher Musikwahrnehmung ab (Hypothese 6). Die Konsequenz daraus mag zunächst überraschen: Der Vorstellung von Diversifikation als Kennzeichen der Moderne stellt Müller in internationaler Perspektive die Vereinheitlichung über Landes- wie über Klassenschranken hinweg (Hypothese 8) entgegen, etwa als "Angleichung" (100) zwischen Bürgertum und Adel.

Besonders aufschlussreich ist die Studie dort, wo sie ästhetische und politische Kategorien verknüpft, etwa am Beispiel der Ausschreitung im Konzertbetrieb. Müller begreift die sich an der musikalischen Neuerung entzündende "Saalschlacht" (259ff.) als äußerste Form der Verständigung über Grenzziehungen zwischen Konservativismus und Progressivität (260) und so letztlich als Moment gemeinschaftlicher Ordnungsvorstellungen.

Müllers Plädoyer, Musikrezeption als performativen Akt (244) kommunikativer Selbstverständigung und Abgrenzung zu begreifen, überzeugt. Den titelgebenden, denkbar umfassenden Anspruch, das "Musikleben" in drei Metropolen des 19. Jahrhunderts zu erfassen, vermag es freilich kaum zu erfüllen. Dies liegt zum einen an Müllers grundsätzlicher Entscheidung, sich auf den Teil von Musik und ihren Rezeptionswegen zu beschränken, der für gesellschaftliche Eliten konstitutiv erscheint (10). Somit sind der musikalischen Alltag einer Unterschicht oder der Bereich der Kirchenmusik ebenso ausgeschlossen wie der Anspruch einer Abbildung urbaner "sound scapes". Dies liegt zum anderen an der Ausblendung bestimmter elitärer Lebenswirklichkeiten selbst. Der Salon als teilöffentliche Institution spielt für die Untersuchung ebenso wenig eine Rolle wie bürgerliche Hausmusik und die Verbreitung des Musikdrucks als Quellen eben jenes musikalischen Wissens, das Müller als Grundlage von Distinktionspraktiken kennzeichnet.

Im Zusammenhang mit häufig gebrauchten Begriffen wie "Hochkultur" und "Kunstmusik" sieht sich die Untersuchung auf musikhistorischer Ebene gelegentlich der Gefahr der Verkürzung ausgesetzt - etwa in der allzu teleologischen Darstellung der kompositorischen Schönberg-Biografie (284). Müller tendiert dabei durchaus in Richtung eines Kulturpessimismus und erweist sich so gerade im abschließenden "Ausblick" keinen Gefallen. Der These einer seit mehr als 100 Jahren anhaltenden "Musealisierung" (144) des Musikbetriebs ließe sich historisch nicht nur die Wahrnehmung von Zeitgenossen um 1900 entgegnen, es "schein[e] nur noch Novitätenkonzerte zu geben." [5] Auch ganz aktuell diskutieren Wissenschaft und Feuilleton wieder intensiv die Problematik eines Repertoire-Kanons. [6] Merkwürdig mutet es an, dass gerade dort, wo Müller solch starke Positionen vertritt, einschlägige Literatur häufig nicht genannt oder diskutiert wird.

Nichtsdestotrotz ist Das Publikum macht die Musik eine mit Gewinn und Vergnügen zu lesende Kulturgeschichte der Musik des 19. Jahrhunderts, die in zahlreiche Forschungsfelder einführt und ihnen eine individuelle, hochinteressante Perspektive hinzufügt, die in Zukunft fraglos mehr Beachtung finden wird.


Anmerkungen:

[1] "Oper im Wandel der Gesellschaft - Die Musikkultur europäischer Metropolen im 'langen' 19. Jahrhundert", Verbundprojekt der Volkswagen-Stiftung 2004-2007 unter der Leitung von Heinz-Gerhard Haupt und Philipp Ther.

[2] Hermann Grampp: Tagungsbericht "HT 2006: Geschichte als Oper: Die Konstruktion und Inszenierung von Geschichte im europäischen Musiktheater des 19. Jahrhunderts. 19.09.2006-22.09.2006, Konstanz", in: H-Soz-u-Kult (18.10.2006), http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1177 (Zugriff 31.08.2014).

[3] "Gefühlte Gemeinschaften? Emotionen im Musikleben Europas", Forschungsprojekt am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.

[4] Z. B. Ryan Minor: Choral Fantasies, Music, Festivity, and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2012; Stephanie Kleiner: Staatsaktion im Wunderland, Oper und Festspiel als Medien politischer Repräsentation (1890-1930), München 2013.

[5] [o. A.], "Novitätenkonzerte", in: Neues Wiener Tagblatt 353 (1905), 1.

[6] Als theoretisches Standardwerk zur Frage der Kanonbildung gilt Lydia Goehr: The Imaginary Museum of Musical Works, An Essay in the Philosophy of Music, Oxford 2007; von musikwissenschaftlicher Seite ist jüngst erschienen Klaus Pietschmann / Melanie Wald-Fuhrmann: Der Kanon der Musik, Theorie und Geschichte, Ein Handbuch, München 2013. Das Feuilleton beherrschte über längere Zeit die Debatte zum "Kulturinfarkt", ausgelöst von der gleichnamigen Polemik von Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel und Stephan Opitz, München 2012.

Sebastian Bolz