Hermann Wentker: Mehrfachbesprechung: Ulrich Herbert: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München: C.H.Beck 2014. Einführung, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 10 [15.10.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
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Von Hermann Wentker
Eine deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert zu schreiben, ist ein gewaltiges Vorhaben, nicht nur wegen der dazu vorliegenden, schier unüberschaubaren Forschungsliteratur, sondern auch aufgrund der Widersprüchlichkeit und Vielfältigkeit dieser Geschichte selbst. So gilt es, zunächst das ausgehende halb-demokratische, halb-autoritäre Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die stets gefährdete und schließlich gescheiterte Demokratie von Weimar und das Gewaltregime des Nationalsozialismus zu analysieren, das mit dem von ihm angezettelten Zweiten Weltkrieg den Untergang des Deutschen Reiches herbeiführte. Nach 1945 hingegen gelang erstaunlich rasch der Wiederaufstieg Deutschlands aus dem verheerendsten Zusammenbruch seit dem Dreißigjährigen Krieg in Gestalt von zwei Staaten, die gegensätzlicher nicht sein konnten: der Bundesrepublik Deutschland im Westen und der DDR im Osten. Während sich die Bundesrepublik als insgesamt erfolgreich erwies, ging die DDR nach einer immerhin vierzigjährigen Existenz im Zuge der friedlichen Revolution von 1989/90 im wiedervereinigten Deutschland auf. Da alte Deutungsmuster wie der "deutsche Sonderweg" oder die Modernisierungstheorie überholt sind, bedarf es erheblicher intellektueller Anstrengung, um die trotz unübersehbarer Kontinuitäten auseinanderstrebenden Teile der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert zu einem Ganzen zu verbinden.
Ulrich Herberts voluminöses Werk ist Teil der seit 2010 erschienenen Reihe "Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert" - und sprengt sie gleichzeitig, angesichts des gut dreifachen Seitenumfangs im Vergleich zu den anderen Bänden. Er versucht, damit eine moderne Nationalgeschichte zu erzählen. Wie in der Reihe üblich, setzt Herbert nicht mit dem Ersten Weltkrieg oder der noch von Hans Rothfels befürworteten welthistorischen Zäsur 1917 ein, sondern mit dem Jahr 1890. Ein klares Ende der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts kann er nicht benennen, da, wie er zutreffend schreibt, "der klärende zeitliche Abstand" fehlt (1238).
Die Signatur dieses "langen 20. Jahrhunderts" deutscher Geschichte erschöpft sich mithin nicht im Gegensatz von Demokratie und Diktatur. Herbert versucht sich vielmehr an zwei neuen "Argumentationsbögen". Er beschäftigt sich erstens mit dem Problem, "wie sich erste und zweite Hälfte des Jahrhunderts in Deutschland zueinander verhalten", wie also auf der einen Seite die beispiellose Entwicklung Deutschlands "von der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Landes um die Jahrhundertwende zu diesem Tiefpunkt [des Jahres 1942] führen konnte", und wie auf der anderen Seite "die Deutschen in den folgenden sechzig Jahren aus dieser Apokalypse herausfanden" (15). Dabei will er eine teleologische Sichtweise vermeiden und betont immer wieder die Offenheit des Geschehens; gleichzeitig arbeitet er Entwicklungslinien zwischen den einzelnen historischen Abschnitten heraus. Den zweiten Argumentationsbogen bilden "die Durchsetzung der Industriegesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und die Auswirkungen dieser fundamentalen Umwälzung auf die Wirtschaft, Gesellschaft und namentlich auf die Politik in Deutschland im 20. Jahrhundert" (17). Die Besonderheit dieses europäischen Phänomens bestand nach Herbert in der Dynamik, die diese Entwicklung in Deutschland entfaltete. Damit knüpft er, mehr implizit als explizit, an die ältere Deutung vom "ruhelosen Reich" (Michael Stürmer) an. Über das Kaiserreich hinaus gesteht er der ökonomisch-gesellschaftlichen Entwicklung eine herausgehobene Rolle zu, so dass Politik und Kultur im Wesentlichen als davon abgeleitete Kategorien erscheinen. Hier wiederum steht die Innenpolitik, die schließlich vor dem Problem der Bewältigung dieser dynamischen Entwicklung und ihrer Folgen stand, im Vordergrund, während die Außenpolitik dieser deutlich nachgeordnet wird. Männer und Frauen treten denn auch weniger als Subjekte, sondern sehr viel stärker als Objekte historischer Prozesse hervor.
Trotz dieser Einschränkungen hat Herbert eine monumentale Darstellung vorgelegt, die alle Gegenstandsbereiche zu erfassen und auch die neuesten methodischen Zugänge zur Zeitgeschichte aufzunehmen versucht. Dabei verweist er immer wieder auf die gesamteuropäischen Zusammenhänge, in die er die deutsche Entwicklung einordnet.
Da er trotz seines epochenübergreifenden Ansatzes in seiner Darstellung den gängigen Zäsuren der politischen Geschichte in Deutschland folgt, konzentrieren sich die Autoren dieses Forums auf jeweils einen Abschnitt der deutschen Geschichte und fragen, wie sich dieser in das Gesamtwerk einfügt, welchen Argumentationslinien gefolgt wird und welche Stärken und Schwächen die Vorgehensweise Herberts mit sich bringt. Dabei widmet sich Jörn Retterath dem Kaiserreich und der Weimarer Republik, Sven Keller dem Nationalsozialismus, Petra Weber den Westzonen und der Bundesrepublik und Hermann Wentker der SBZ/DDR.