Rezension über:

Miriam Volmert: Grenzzeichen und Erinnerungsräume. Holländische Identität in Landschaftsbildern des 15. - 17. Jahrhunderts (= Ars et Scientia. Schriften zur Kunstwissenschaft; Bd. 4), Berlin: Akademie Verlag 2013, VIII + 246 S., ISBN 978-3-05-006099-6, EUR 79,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ursula Härting
Hamm
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Härting: Rezension von: Miriam Volmert: Grenzzeichen und Erinnerungsräume. Holländische Identität in Landschaftsbildern des 15. - 17. Jahrhunderts, Berlin: Akademie Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 11 [15.11.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/11/24833.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Miriam Volmert: Grenzzeichen und Erinnerungsräume

Textgröße: A A A

Die vorliegende Untersuchung basiert auf Miriam Volmerts Dissertation bei Wolfgang Kemp in Hamburg aus dem Jahr 2011: "Grenzzeichen und Erinnerungsräume. Strukturen holländischer Identität in Dünenbildern". Der dort gewählte Untertitel sagt mehr über den Kern der nun vorliegenden Publikation aus. Die Autorin geht von der frühen Haarlemer Landschaftsmalerei aus, spannt den Faden über holländische Landschaften mit weitem Dünenblick und führt den Leser zur Bildformel Dünenlandschaft, die zum Leitbild einer holländischen Identität wurde, "zu einer nationalen, historischen Landschaft" (19). Dreh- und Angelpunkt bleibt Haarlem als kreatives Zentrum für den Paradigmenwechsel vom lokalen Schauplatz - unter anderem Haarlem als locus amoenus, die Düne Witte Blink als Helikon - hin zur nationalen Selbstverortung in Dünenbildern holländischer Maler.

Nun lässt sich diese Selbstidentifizierung der Holländer mit dem Motiv der Düne, der Dünenlandschaft, dem Dünenpanorama nicht linear am Motiv festmachen. Mehrere, auch parallele, vor allem propagandistische Wege führen zum Dünen-Leitmotiv. Volmert beginnt ausführlich mit den frühen, in den Illustrationen und Flugblättern höchst erfolgreichen tuin-Grafiken. Sie zeigen kleine autonome, umzäunte Gartenräume, in denen sich die holländische Magd (Maecht) vor allem rhetorisch-friedlich gegen Angriffe, Übergriffe und Schmähungen der feindlichen, hinterhältigen Spanier wehrt. Neben dem Maecht-Tuin, einem erfolgreichen Bataver-Aufstand gegen die römische Besatzung (69/70 n.Chr.) und dem spanischen Kahlschlag im Haerlemer Hout (1572/3) bilden sich mit der Düne als Landschaftszeichen parallele Modelle des Widerstands aus; zunehmend beobachtet man das erstarkende nationale Wir auf allen kulturellen Ebenen. Haarlemer Heraldik, Propaganda, Topo- und Kartografie, Historiografie, Illustration und Malerei (Einführung 2-6, 17, 21-127), Haarlemer Sprachkultur, Literatur und Dichtung (129-139) entwickeln sich immer weiter im Sinne einer holländischen Selbstverortung. In all diesen Bereichen findet die Autorin das Motiv der Düne zunehmend als nationalen Bedeutungsträger. Sie verweist dabei häufiger auf das im Hinblick auf das Dünenmotiv bereits ausgebildete Frontispiz zum Index Batavicus des Historiografen Adriaan Pars aus dem Jahr 1701, "ein kommentiertes Übersichtswerk über die Schriften verschiedener Autoren von der Antike bis zur Gegenwart, die sich mit Holland bzw. dem germanischen Batavien befassen." (1) Hollandia thront auf dem Leo belgicus, rechts öffnet sich ein Ausblick über Kirche und Dünen bis zur Nordsee. Bibliothek, die Wappen der Sieben Provinzen, Antiquitäten und eine monumentale Säule verweisen auf den Inhalt des Übersichtswerks, vor allem auf Werte und Identifikationszeichen Hollands. Schon gleich zu Anfang ihres Buches führt Volmert dieses Frontispiz als "nationalisierte Küstenlandschaft" ein (4; Abb. 1). [1]

Volmert sieht in dem Titelblatt ihre (unbestrittene) These bestätigt, dass Bilder Identitäten stiften konnten. Sie zeigt, "wie Landschaftszeichen von Dünen und Küsten in komplexen Produktions- und Rezeptionsprozessen des späten 15. und 16. Jahrhunderts zunächst als schematische lokalpolitische Grenzmarkierungen ausgebildet werden, um schließlich im Laufe des 17. Jahrhunderts zu einem kollektiven Imaginationsraum von Geschichtsprojektionen weiterentwickelt" (13) zu werden. Diesen Zeitraum erschließt sie minutiös in den oben genannten vielfältigen Themenbereichen. Ausgehend vom Motiv Düne und Bezugspunkten wie dem Maecht-tuin nimmt sie ausdrücklich weniger das ästhetische Interesse der Künstler (13, 129) und Käufer oder den einsetzenden Landschaftsrealismus ins Visier, sondern Kriegserinnerung und politisches Kalkül, lokalpolitische Propaganda und Widerstandsagitation.

Dem Programm der druckgrafischen Serie der Plaisante Plaetsen von Claes Jansz. Visscher aus dem Jahr 1611 ist breiter Raum gewidmet (13, 17, 138-161), zeigen sie doch auch ein ehemaliges spanisches Besatzungsquartier (Abb. 37) und den Dünenrand am vom Feind kahlgeschlagenen Haarlemer Wald (Abb. 38).

Auf Grundlage der manchmal sehr ausgedehnten Deutungen lässt sich erkennen, dass die in der holländischen Kultur allgegenwärtige Düne und Dünenlandschaft einen Paradigmenwechsel vollzogen. Durch lokale historische Ereignisse in Haarlem, wie römische und spanische Besatzung und Kahlschlag des Waldes, erhielt die Düne zuerst als lokaler Hinweis ihren spezifischen Symbolwert, eine assoziative, emotionale, stilistische, sowie wertende Bedeutung. In der Folge avancierte sie zum Sinnbild, zum Markenzeichen Hollands. Das Dünenbild konnte gleichsam wie ein Bekenntnis zur Nation "gelesen" werden, wofür sich unzählige prägnante Beispiele finden. [2] Der Düne als flachem Naturmotiv liegt wohl auch ein gewisser Bühnencharakter zugrunde, der autonom genutzt werden konnte, losgelöst vom nationalen ikonografischen Gehalt, genauso wie ihr natürlicher Charakter als landschaftsbestimmender Faktor und vor allem als Grenze zur See.

Im Kapitel zu den tonalen Dünenbildern nach 1620 (165-208), etwa von Van Goyen, Molijn, Van Santvoort oder Ruysdael, stellt Volmert bei den Künstlern "kein Interesse an den Dünen als einem 'realen' Naturphänomen" fest (167). Den Dünen fehlten die Sandigkeit (167; "ohne Grün" beanstandet Gérard de Lairesse 1707) sowie Verwirbelungen und Spuren im Sand, menschlicher oder natürlicher Art. Dementsprechend deutet die Autorin die Dünen in erster Linie national. Welchen Einfluss dabei eine neue Koloristik und Technik - diese spezifisch holländische Erfindung und charakteristische Eigenart einer flotten, tonigen Malerei - oder auch die "dozijnschilderijen" [3] und eine günstige, erschwinglichere Palette hatten [4], sollte bedacht werden. Doch muss eine nationale Assoziation nicht ausgeschlossen sein. Der jüngst im Amsterdamer Rijksmuseum für museale Präsentationen eingeführte Begriff "Cult of Nation" findet eine Parallele in folgender These Volmerts: "Die Dünen sind aufgrund ihrer 'nationalen' Aufladung das Fundament der neuen Repräsentation der Republik - sowohl in ihrer arkadisch-gesamtholländischen Fassung als auch in den panoramatischen Stadtprofilen" (206). Ein wenig überspitzt erscheint Volmerts Anwendung ihres Postulats der "identitätstiftende[n] Dimension der Dünen" und des erhöhten Überblicks, wenn sie die Brasilien-Panoramen Frans Posts, geschult an holländischer Dünenprogrammatik, abhandelt (206; dazu hier [2]).

Eine ähnlich gründliche Aufarbeitung wie für das Motiv Düne durch Miriam Volmert wünscht man sich nun auch für den Wald, für die Waldlandschaften der südlichen Niederlande, um die These zu stützen, dass die dortige grüne Landschaft in Natur, Kunst und Kultur eine vergleichbare nationale Wirkung und Identität besaß. Justus Lipsius (1547 Overijse-Löwen 1606) formulierte es mit Blick auf seine belgische Heimat 1584 in "De Constantia" folgendermaßen: "Gründe für eine besondere Zuneigung und Liebe zu unserem kleineren Vaterland ... [liegen] einerseits in der Gestalt der Natur, andererseits auf kultiviertem Menschenwerk und Bürgerrechten." [5] Demnach stehen in Antwerpener Kunstinventaren erwähnte Gemälde wie "Een Boschken van Focqueel" (Jacques Fouquier, 1590/1 Antwerpen (?)-Paris 1655/56) und "Een Hollants Lantschapken" im Diskurs der Nationen. [6]


Anmerkungen:

[1] Frontispiz von Hill van der Aa nach Willem van Mieris, zu Adriaan Pars: Index Batavicus, of Naamrol van de Batavise en Hollandse Schrijvers. Van Julius Cesar af, tot dese tijden toe, Leiden 1701.

[2] Die Suche der Autorin nach ihrem Motiv ist ausdauernd und führt dazu, dass sie zum Beispiel in der Basis für Claes Jansz. Visschers sich aufbäumendem Leo belgicus (Abb. 41) eine Dünenlandschaft sieht - eine Beobachtung, der die Verfasserin nicht folgen kann. Zu bedenken wäre, dass Volmert den nach links gerichteten Leo belgicus, 1608 von Jodocus Hondius gestochen, vor Augen hatte, der tatsächlich auf einer flachen Düne steht.

[3] Seit Hans Floerke: Formen des Kunsthandels, Leipzig 1905, ein Begriff für "Brabanter Dutzendware", nun auch für Holland nachgewiesen, siehe Marijke Heslenfeld: "Zo gaan er dertien in een dozijn", Johannes Croon, dozijnschilder in Amsterdam, in: Liber Amicorum Marijke de Kinkelder: collegiale bijdragen over landschappen, marines en architectuur, Zwolle 2013, 199-210.

[4] Walter Liedtke: Cottage Industry, Some Haarlem Landscapes of the Early Seventeenth Century, in: Apollo 158 (2003), 23.

[5] Dazu Ursula Härting / Kathleen Borms: "Abraham Govaerts (1589-1626) - Der Waldmaler", Schoten 2004, Kap. 10: Zur Bedeutung von Walddarstellungen - von der Ressource zu heimatlichem Empfinden, 63-71. Bemerkenswert ist hier Alexander Keirincx (1600-1652), der während seiner Lehrzeit bei Abraham Govaerts in Antwerpen dichte spätsommerliche Laubwälder schuf, nach seinem Umzug nach Holland fortan einzelne monumentale Eichen in Dünengefilden malte.

[6] Erik Duverger: Antwerpse kunstinventarissen, Brüssel 1992, Bd. I-6, 353: 1652, Nr. 350; 491: 1653/4, Nr. 503.

Ursula Härting