Mitchell G. Ash / Jan Surman (eds.): The Nationalization of Scientific Knowledge in the Habsburg Empire, 1848-1918, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2012, XII + 258 S., 3 Tabellen, 6 Abb., ISBN 978-0-230-28987-1, GBP 50,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Das Habsburgerreich und Nationalismus scheinen auf den ersten Blick eng miteinander verbunden gewesen zu sein. Aber welche Auswirkungen hatte dies auf den internationalen wissenschaftlichen Diskurs? Der vorliegende Sammelband setzt sich mit Aspekten, Prozessen und der Rolle von Nationalismus auseinander. Bei den meisten Aufsätzen dieses Bandes handelt es sich um Beiträge zu einer Konferenz der Europäischen Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte in Wien 2008 sowie zum 23. Internationalen Kongress für Wissenschafts- und Technologiegeschichte in Budapest 2009.
In ihrer Einleitung sprechen die Herausgeber Mitchell G. Ash und Jan Surman die Schwierigkeit an, die durchaus differenten Themen zu einem kohärenten Ganzen zu verschweißen, und geben einen nützlichen Überblick zu Nationalismus und Wissenschaftsgeschichte. Sie interessiert, welche Wissenschaftspolitik nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution von 1848 fokussiert wurde, und erörtern die Frage, wie in den späten Jahren des Habsburgerreiches der Problematik einer gleichzeitigen Nationalisierung und Internationalisierung von Wissenschaft begegnet wurde. Dies untersuchen sie an naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Chemie, Seismologie oder Medizin.
Im ersten Beitrag untersucht Surman das Entstehen und Etablieren einer Landessprache als zentraler Faktor für den Nationalisierungsprozess. Auch Universitäten, Forschungsinstitute und wissenschaftliche Gesellschaften waren hochgradig politisiert. Surman untersucht die im 19. Jahrhundert in zahlreichen Disziplinen stattfindende Nationalisierung von Wissenschaft und Unterricht. Zahlreiche wissenschaftliche Konflikte beruhten auf nationalen Befindlichkeiten. Ab den 1890er Jahren habe, im Anschluss an eine Blütezeit nationaler Institutionen, ein "turn to internationalism" (48) stattgefunden, dieser habe sich jedoch in seiner Struktur stark von dem aus vornationalen Zeiten unterschieden. Dennoch sei auch in dieser Phase der nationale Aspekt nicht vernachlässigt worden, vielmehr hätten Wissenschaftler ihre nationale Gemeinschaft im internationalen Kontext vertreten.
Anschließend betrachtet Johannes Feichtinger die Habsburgermonarchie als Sonderform nationaler Wissenschaftskultur. Er beleuchtet anhand zahlreicher Beispiele aus den Geisteswissenschaften, beispielsweise der Philosophie und der Rechtswissenschaften, sowie auch aus den Naturwissenschaften, wie im 19. und frühen 20. Jahrhundert österreichische Wissenschaftler versuchten, mit der Diskrepanz zwischen den beiden Konzepten "Staatsnation" und "Kulturnation" umzugehen. Marianne Klemun geht auf die Wechselwirkung von institutionellen und epistemischen Perspektiven ein und konzentriert sich dabei auf die 1850er Jahre. Sie beschreibt den Weg der Geologie als symbolische Konstruktion und rahmengebend für den Habsburgischen Gesamtstaat. Das Projekt der kaiserlichen geologischen Vermessung generierte innerhalb von 14 Jahren eine konsistente Kartierung, die ein großflächiges und geologisch vielfältiges Gebiet umfasste. Das Ziel des Projekts, die Transformation der Länder zu einem geologisch zusammenhängenden einheitlichen Gebiet, war zutiefst politisch.
Gábor Palló skizziert in seinem Essay das starke Zusammenwirken von Wissenschaft, nationaler Politik und internationalen Verbindungen. Er vertritt die zentrale These, dass die kulturelle Vielfalt des Habsburgerreiches sich auf die Naturwissenschaften übertragen habe. In Anlehnung an die Typologie des Nationalismus von Ernest Gellner argumentiert Palló, dass es sinnvoll sei, nach nationalistischen Tendenzen in der ungarischen Wissenschaft, aber auch Literatur oder Tanz, zu suchen. Tibor Frank beschäftigt sich mit der Bildungspolitik in Ungarn, indem er die prominente Familie Eötvös biografisch untersucht. Baron József Eötvös, sein Schwager Ágoston Trefort sowie Józefs Sohn, der Physiker Loránd Eötvös, leiteten 1867-1895 beinahe durchgehend das Bildungsministerium. Damit war die Familie in der Lage, ihre Idee von der Staatsangehörigkeit zu realisieren. Für das Denken der beiden älteren Eötvös', so Frank, sei wie für viele andere zu dieser Zeit auch die deutsche Kultur paradigmatisch gewesen. So habe es für die drei Männer offenbar keinen Widerspruch zwischen der Loyalität zur deutschen Kultur und dem ungarischen Patriotismus gegeben. Der zu diesem Zeitpunkt durchgesetzte ungarischsprachige Sekundärschulunterricht belege, dass das Ideal einer zwei- oder gar mehrsprachigen Unterrichtsform nicht überall gegolten habe.
Im Anschluss daran diskutiert Soňa Štrbáňová wissenschaftspolitische und institutionelle Aspekte. Anhand der Situation der tschechischen Chemiker widmet sie sich dem wissenschaftlichen Dilemma "To be a good son of one's nation or to become involved in supranational scientific networks?" (156). Štrbáňová untersucht den "nationalen Stil" in der europäischen Wissenschaft im multiethnischen und -kulturellen Raum der Habsburgermonarchie. Als sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert der Landespatriotismus hin zu einem starken nationalen Patriotismus veränderte, bestand für tschechische Wissenschaftler ein erheblicher Druck, in tschechischer Sprache zu publizieren und sich gegenüber der deutschen Wissenschaft zu profilieren. Ähnlich wie in Politik oder Kultur wurden tschechische, vom Staat unabhängige Institutionen gegründet. Die Autorin erläutert Versuche innerhalb der Tschechischen Akademie, den Nationalismus aufzuweichen; insbesondere die Chemiker strebten dies an. Die Geisteswissenschaftler gingen hier anders vor, doch auch sie fanden geeignete Wege zum internationalen wissenschaftlichen Dialog.
Deborah Coen bezieht sich in ihrem Essay über Erdbeben im Habsburgerreich auf institutionelle und wissenschaftsstrukturelle Fragen. Erst als Folge des Erdbebens in Ljubljana 1895 sei damit begonnen worden, nach Schweizer Vorbild ein seismologisches Netzwerk anzulegen. Dafür habe geklärt werden müssen, wie es für diesen Vielvölkerstaat adäquat aufzubauen und wie eine mehrsprachige und interkulturelle Kommunikation zu koordinieren sei. Coen untersucht die dezentrale, lokale Struktur des Netzwerks. Dabei stützt sie sich auf die Korrespondenz österreichischer und auswärtiger Wissenschaftler. Marius Turda widmet sich der öffentlichen Debatte zur Eugenik, die 1910-1911 in Ungarn stattfand. Dabei betont er den wechselseitigen internationalen Austausch insbesondere mit England und verweist darauf, dass dieser Diskurs Wegbereiter für die nationale Förderung und Verstaatlichung der Eugenik im Ungarn des frühen 20. Jahrhundert gewesen sei. Obwohl dieser Diskurs zur Eugenik von einem deutlich internationalen Sprachduktus geprägt war, bemühten sich die ungarischen Experten um eine spezifisch ungarische Terminologie. In seinem empirisch ausgesprochen breit fundierten Aufsatz betont Turda die Relevanz der Eugenik als einflussreicher, wissenschaftlicher Bestandteil alternativer Visionen einer neuen sozialen Ordnung. Im nationalen Kontext wurde Eugenik als Mechanismus zur Dekodierung sozialer und nationaler Problematiken sowie als Ausdruck des Ideals einer gesunden Nation verstanden. Darüber hinaus bot sie dem Staat die Möglichkeit, wissenschaftliche Prinzipien praktisch anzuwenden. Im Schlussbeitrag setzt sich Tatjana Buklijas mit dem Wien der Jahrhundertwende auseinander. Die Wiener Anatomie war zu dieser Zeit durch Präsentationen auf der Weltausstellung, klassische Lehrbücher und innovative Atlanten international berühmt. Buklijas beleuchtet in einem anregenden Kontrast Karriere, Methodik und Leben zweier Professoren, die Lehrstühle für Anatomie an der Wiener Universität innehatten: von Carl Toldt, einem österreichischen Liberaler mit deutschnationalen Tendenzen, und Emil Zuckerkandl, einem assimilierten ungarischen Juden, der für seine progressive Haltung in Bezug auf Arbeiter- und Frauenrechte bekannt war. Buklijas Analyse in Bezug auf Zuckerkandl beschränkt sich zumeist auf dessen medizinische Fähigkeiten. Die Verfasserin erarbeitet die Unterschiede der wissenschaftlichen Haltungen der beiden Forscher in engem Zusammenhang mit deren politischer Gesinnung und den sozialen Netzwerken, in die sie eingebunden waren. Buklijas betont, dass die fachlichen Differenzen zwischen den beiden Wissenschaftlern nur mit Blick auf den politischen und sozialen Kontext Österreichs verstanden werden könnten.
In der Zusammenschau kristallisieren sich in diesem Band zwei große, miteinander verbundene Themenfelder heraus: zum einen das Spannungsfeld zwischen nationalen Zielen und internationaler Forschungsgemeinschaft, zum anderen die Wechselwirkung offizieller Institutionen und autonomer wissenschaftlicher Forschung. Dabei bietet der Band dem Leser keine übergreifende These, sondern in den einzelnen Essays vielmehr verschiedene Perspektiven und Schlussfolgerungen. Das Fazit könnte lauten: Forschung und Wissenschaft zielten auf eine Emanzipation von nationalen Gegensätzen, die im Zuge der Revolution von 1848 erstmals vehement aufkamen. Dies geschah bei den Geistes- wie auch den Naturwissenschaften. Trotz des unterschiedlichen Gehalts der Beiträge untersucht der Band in fruchtbarer Weise das Zusammenspiel von Wissenschaft, Gesellschaft und Staat. Damit bietet er eine geeignete Grundlage sowie einen guten Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen.
Felicitas Söhner