Megan Cassidy-Welch: Imprisonment in the Medieval Religious Imagination, c. 1150-1400, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2011, XI + 192 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-0-230-24248-7, GBP 55,00
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Das Wort "Gefängnis" erfuhr im Deutschen erst mit dem Aufkommen der modernen Strafanstalt eine auf diese bezogene Bedeutungsverengung. Zuvor konnte "gevencnisse" sowohl den Zustand wie auch den Ort der Gefangenschaft oder die Fesseln des Gefangenen bezeichnen, ja sogar, wie in der Straßburger Kleiderordnung von 1375, die zu enge Schnürung eines Mieders. [1] Das Englische verfügt dagegen über eine Reihe unterschiedlicher Bezeichnungen, die es meist aus dem Französischen entlehnt hat. So gibt das "Oxford English Dictionary" als Erstbeleg für "Prison" Einträge in der Angelsächsischen Chronik an, die sich nach der normannischen Eroberung des neuen Fachbegriffes aus der königlichen Herrschaftspraxis bedienten. [2]
Der auf das Mittelalter zurückgehende Sprachunterschied hat sich auch darauf ausgewirkt, wie in der deutsch- und englischsprachigen Historiographie über vormoderne Gefangenschaft geschrieben wurde. In der lange Zeit rechtshistorisch bestimmten deutschen Forschung nutzte man die ebenso präzise wie erkenntnislenkende Terminologie dieser Disziplin, um den "Strafvollzug im Mittelalter" als Vorläufer moderner Rechtsinstitute zu beschreiben. [3] Eine andere, durch die Rezeption Foucaults angeregte Redeweise hat die Frühneuzeitforschung erprobt. Die von ihr betriebene "Geschichte der Einsperrung" erlaubt eine neue Lesart der Quellen sowie den Vergleich zwischen "totalen Institutionen", wie ihn auch die hier anzuzeigende Monographie unternimmt (6). [4] Verglichen mit der deutschen Arbeit am Fachbegriff hat es die englische Forschung sprachlich leichter. Sie kann, wie im Titel einer jüngeren Darstellung, Gefangenschaft zugleich weit als "captivity" und enger als "imprisonment" fassen. [5] Dies trifft ebenfalls auf das Buch von Megan Cassidy-Welch zu, beschäftigt es sich doch mit übertragenen Bedeutungen in der Auseinandersetzung mit Gefangenschaft.
Megan Cassidy-Welch nimmt Gefangenschaftsbeschreibungen in religiösen Kontexten des Mittelalters in den Blick. Es geht ihr darum, die Übertragung des in der christlichen Tradition stehenden Spannungsverhältnisses zwischen erfahrener Endlichkeit und verheißener Befreiung - "confinement and the promise of freedom" (4) - auf die Darstellungen von Gefangenschaft nachzuweisen. Auf diesem Wege arbeitet sie außerdem Wechselwirkungen zwischen den sich entwickelnden Vorstellungen und lebensweltlichen Praktiken heraus. Der zeitliche Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem 13. Jahrhundert, das mit der institutionellen Verfestigung des hochmittelalterlichen Wandels und der in Äußerungen der Zeit propagierten Verteidigung der Christenheit gegen innere und äußere Feinde auch neue Gefängnisformen und religiös aufgeladene Gefangenschaftsvorstellungen mit sich brachte. So erhoben beispielsweise im selben Jahr 1229 das Generalkapitel der Zisterzienser die Einrichtung von "carceres" in den Abteien des Ordens und das Konzil von Toulouse die Einrichtung von Gefängnissen zur Unterstützung der Inquisition zur Norm (28, 59).
Auf einen Überblick über die jüngere Gefangenschaftsforschung, die seit dem Erscheinen der "Oxford History of the Prison" auch in der Mediävistik einen Aufschwung erlebt [6], folgen fünf Kapitel, die den Untersuchungsgegenstand in verschiedenen Milieus und ihren jeweiligen Überlieferungszusammenhängen nachweisen: 1. Die Rede vom Kloster als Gefängnis in der monastischen Tradition sowie die freiwillige Einsperrung der Klausur und der Inklusorien und die unfreiwillige der Klostergefängnisse. 2. Gefangenenbefreiungswunder in Hagiographie und Mirakelberichten mit einem Fokus auf der Leonhardsverehrung. 3. Die Häretikerverfolgung und die Gefängnisse der Inquisition in Südfrankreich. 4. Gefangenschaft in der seelsorgerlichen Literatur, etwa in den Predigtexempla der Mendikanten oder den Kreuzzugsaufrufen. 5. Die Kriegsgefangenschaft Ludwigs des Heiligen auf seinem Kreuzzug und ihre Verarbeitung in der Hagiographie. Ist die Auswahl dieser Untersuchungsbereiche zum Teil den Forschungsinteressen von Cassidy-Welch geschuldet, so gelingt ihr mit der Heranziehung der für die jeweiligen Kapitel relevanten Quellengattungen ein faszinierendes Panorama der Überlieferung zu ihrem Thema, das in den gut herausgearbeiteten Gattungscharakteristika nicht an Tiefenschärfe verliert.
Megan Cassidy-Welch kommt zu dem Ergebnis, dass Gefangenschaft in ihrer ganzen Form- und Bedeutungsvielfalt von den die Überlieferung gestaltenden Praktikern und Denkern des Mittelalters als eine Voraussetzung für geistliche Befreiung verstanden wurde. Das Gefängnis war Ort der Buße von Eingesperrten wie der notorischen Nonne von Watton (16-20), des gegen die Inquisitionsgefängnisse protestierenden Bernard Délicieux (75-76) oder der Mystikerin Christina Mirabilis, deren Leben Thomas von Cantimpré als Befreiung der Seele allegorisierte (85-89). Zugleich war das Gefängnis Schauplatz der in biblischer Tradition stehenden Befreiungswunder. Es wurde von seinen Beschreibern als ein Ort geschätzt, der die genannten Erfahrungen ermöglichte und wie das Purgatorium dem Schutz und Zusammenhalt der christlichen Gemeinschaft diente.
In ihrer Interpretation bemüht sich Cassidy-Welch, diese Beobachtungen mit Rückschlüssen auf mittelalterliche Vorstellungen zu versehen, für deren Erforschung vor allem die Arbeiten von Caroline Walker Bynum stehen. Dabei tut sie mitunter zuviel des Guten, wenn sie etwa auf der Suche nach einer "spatial language of enclosure" (5, 8-12) in einer mittelalterlichen Predigt eine "highly gendered [...] feminisation of Jerusalem" ausmacht (94, vgl. aber 96-97). Der Prediger hatte sich des biblischen Sprachgebrauchs von der 'Tochter Zion' bedient. Auch wird man die Miniatur in einer Handschrift des Ludwigslebens des Guillaume de Saint-Pathus (Paris, BNF, Ms. fr. 5716, S. 128) kaum als Gegenüberstellung von Gefangennahme und Gefangenschaft des Kapetingers im Sinne der Hauptthese des Buches deuten wollen (116-118), da links im Bild vielmehr die Ermordung des ayyubidischen Sultans dargestellt ist. [7] Sieht man von solchen Überinterpretationen ab, so ist ein Buch zu begrüßen, das nicht nur eine Fülle an Material erschließt und aktuelle Fragestellungen der internationalen Mittelalterforschung vermittelt, sondern auch in überzeugender Art und Weise dazu anregt, Gefangenschaft in kulturgeschichtlicher Perspektive zu betrachten.
Anmerkungen:
[1] Deutsches Rechtswörterbuch (Wörterbuch der älteren deutschen Rechtsprache), hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. 3, bearb. v. Eberhard von Künßberg, Weimar 1935-1938, 1412-1417.
[2] James A. H. Murray (ed.): A New English Dictionary on Historical Principles. Founded Mainly on the Materials Collected by The Philological Society. Bd. 7, Oxford 1909, 1385-1386.
[3] Thomas Krause: Geschichte des Strafvollzugs. Von den Kerkern des Altertums bis zur Gegenwart, Darmstadt 1999, 16-20.
[4] Gerd Schwerhoff: Historische Kriminalitätsforschung (= Historische Einführungen; Bd. 9), Frankfurt am Main / New York 2011, 100-103, mit Bezug auf die Veröffentlichungen von Falk Bretschneider.
[5] Jean Dunbabin: Captivity and Imprisonment in Medieval Europe, 1000-1300 (= Medieval Culture and Society), Basingstoke / New York 2002.
[6] Norval Morris / David J. Rothman (eds.): The Oxford History of the Prison. The Practice of Punishment in Western Society, New York [u. a.] 1995.
[7] Vgl. Elizabeth Morrison / Anne D. Hedeman (eds.): Imagining the Past in France. History in Manuscript Painting, 1250-1500. Katalog zur Ausstellung im J. Paul Getty Museum, Los Angeles, 16. 11. 2010 - 6. 2. 2011, Los Angeles 2010, 161-162, Nr. 20.
Christoph Friedrich Weber