Christiane Czygan: Zur Ordnung des Staates. Jungosmanische Intellektuelle und ihre Konzepte in der Zeitung Ḥürrīyet (1868-1870) (= Studien zum Modernen Orient; 21), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2012, 315 S., ISBN 978-3-87997-407-8, EUR 39,80
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In der Islamwissenschaft ist die Analyse von Zeitschriften beliebt, scheint hier doch ein klar umrissenes und gleichzeitig facettenreiches Quellenkorpus vorzuliegen, das, so meint man, leicht auszuwerten sei. Leider stellt es sich dann bei der Bearbeitung eines konkreten Themas heraus, dass eine systematische Auswertung des Materials erhebliche methodische Probleme bereitet. Ein qualitatives Vorgehen kann angesichts der Textmasse - häufig sind es ja zehntausend Seiten und mehr, die es durchzuforsten gilt - sehr viel Zeit in Anspruch nehmen, zumal etwa eine OCR-Erkennung älterer arabischer Texte immer noch nicht möglich ist. Oder soll man begriffsgeschichtlich, diskursanalytisch oder themenfeldorientiert vorgehen? Auf jeden Fall muss man an einem gewissen Punkt bei der Beschäftigung mit solchen Texten eine Entscheidung treffen. Vor dieser Hürde stand auch die Verfasserin des hier zur Rezension anstehenden Buches, eine an der Universität Hamburg verfasste Dissertation. Es geht um die Rekonstruktion der Vorstellungen der Jungosmanen anhand der von ihnen in der zweiten Hälfte der 1860er Jahren in London herausgegebenen Zeitschrift Ḥürriyet ("Die Freiheit").
Bei den Jungosmanen, so Christiane Czygan, handelt es sich weniger um eine wirkliche politische Bewegung, sondern um einen nicht allzu großen Kreis junger (verbannter) Intellektueller, die das Medium Zeitschrift dazu nutzten, ihre (subversiven) Vorstellungen von einem in ihren Augen notwendigen Wandel der osmanischen Gesellschaft einer möglichst zahlreichen Leserschaft nahezubringen. In der Tat wurden ihre Texte von vielen Gleichgesinnten rezipiert, doch schlug sich der durchaus wirkungsmächtige Diskurs noch nicht in ein politisches Handel breiterer Bevölkerungskreise um. Davon kann erst 40 Jahre später im Zusammenhang mit der sogenannten "Jungtürkischen Revolution" die Rede sein. Die Jungosmanen, die zwischen 1867 und 1871 aus dem Exil heraus gemeinsam agierten, mag man daher mit der etwas unglücklichen Bezeichnung "Vorläufer" kennzeichnen, doch wird dies der Eigendynamik der gesamten Entwicklung nicht wirklich gerecht. Ein gewisses Vorbild stellte für die Yeñi ʿOsmāmlılar Cemʿīyeti wohl die von Giuseppe Mazzini (1805-1872) gegründete Geheimorganisation La Giovine Italia dar, obgleich ein direkter Zusammenhang nicht nachgewiesen werden kann.
Nach ihrer Rückkehr in das Osmanische Reich zerfiel die Gruppe, doch der Impuls wirkte weiter. Die Hauptakteure lassen sich gut identifizieren: Nāmık Kemāl (1840-1888), Żiyā Bey (1829-1880), ʿAlī Suʿāvī (1839-1878) sowie Āgāh Efendi (1832-1885) wirkten von der britischen Hauptstadt aus, Nūrī Bey (1844-1906) und Reşād Bey (1844-1902) agierten in Paris. Nur Muṣṭafā Fāzıl Paşa (1830-1875), der am 24. März 1863 in der französischen Zeitschrift La Liberté einen sehr kritischen offenen Brief an den Sultan geschrieben hatte, den Christiane Czygan in ihrer Arbeit ausführlich untersucht (47-57), war nach einem kurzen Aufenthalt in Europa nach Istanbul zurückgekehrt.
Zusammen mit Muḫbir ("Der Korrespondent"), der zunächst (1866-1867) in Istanbul, dann wegen seiner Schließung aufgrund von Zensurbestimmungen bis 1868 in London erschien, bildete Ḥürriyet die zentrale Plattform für die Reformforderungen der Jungosmanen. Da sie sich an eine gebildete Leserschaft in der Heimat richtete, war sie vollständig auf Osmanisch verfasst. Für den britischen Leser damit vollkommen unbrauchbar schmuggelte man sie von England aus in das Osmanische Reich. Vom 29. Juni 1868 bis zum 23. Juni 1870 wurden 100 Ausgaben mit einem Gesamtumfang von 616 Seiten gedruckt. Dies stellt damit auch den textlichen Rahmen für die Qualifikationsschrift von Christiane Czygan dar. Ein Drittel aller Artikel sind - beinahe durchgängig - anonymisierte Leserbriefe (von 388 nämlich 103), wobei 75% aus Istanbul, 10% aus Kreta und 4% aus Izmir kommen. 285 der Beiträge sind jungosmanischer Provenienz und fordern eine Revision der Politik des Osmanischen Reiches. Um die Zahl der zu analysierenden Texte noch ein wenig überschaubarer und damit handhabbarer zu machen, beschränkt sich die Verf. auf die von Nāmık Kemāl und Żiyā Bey verfertigten Beiträge, wobei zunächst die gängige Forschungsposition übernommen wird, dass die Artikel in Ḥürriyet weitestgehend von diesen beiden Personen geschrieben wurden. Zur Überprüfung dieser These entwickelt Czygan in Anlehnung an eine Arbeit von Heike Hänlein ("Studies in Authorship Recognition - a corpus-based approach", Frankfurt am Main 1999) für Ḥürriyet eine Methodik der Verfasserermittlung. (105-134) Im Zentrum steht eine genaue Untersuchung der Stilelemente in Einzeltexten. Es werden dabei sowohl quantitative Kriterien (Orthographie, Lexeme, Grammatik, Textstruktur, Textgestaltung) wie auch qualitative Merkmale (Artikelbeginn, Artikelende, Artikelstruktur) in Augenschein genommen. Zunächst untersucht Christiane Czygan die Texte nach Verfassern getrennt auf ihre Charakteristika hin. Lassen sich textimmanente Besonderheiten herauskristallisieren, so werden die ermittelten Spezifika den Produkten möglicher anderer Verfasser gegenübergestellt. Erst aus dem Vergleich ergeben sich signifikante Unterschiede, die für die Verfasserermittlung relevant sind. Als Zwischenergebnis der überaus genauen und scharfen Analyse (135-225) kann festgehalten werden: "Im Zuge der Untersuchung ergibt sich ein komplexeres Bild, das Nāmık Kemāl und Żiyā Bey als Verfasser mancher Artikel sehr unwahrscheinlich erscheinen lässt, sodass einige Artikel in Hinblick auf die abweichende Verfasserschaft einer gesonderten Untersuchung unterzogen werden. Im Zuge der Verfasseranalyse entstand ein differenziertes Bild verschiedener Perspektiven und Gedankengänge, des Wandels und der Angleichung bezogen auf den Publikationszeitraum". (29) Eine intensive Untersuchung von vier gezielt ausgewählten Texten (225-250) zeigt zudem, dass davon auszugehen ist, dass eine Reihe von Beiträgen von keinem der beiden Jungosmanen stammt. Es schließt sich noch eine begriffsgeschichtliche Untersuchung an: Christiane Czygan richtet den Fokus auf das Bedeutungsspektrum von vaṭan in Ḥürriyet und stellt sich die Frage, ob man hier eventuell Frühformen eines osmanischen Nationalismus ausmachen kann. Insgesamt finden sich 89 Einträge, vaṭan hat damit eine ähnlich hohe Referenz wie etwa "Bildung" (maʿrifet), "Recht" (ḥuḳūḳ) und "Staat" (devlet). Vaṭan besitzt, so kann herausgearbeitet werden, mannigfaltige Bedeutungen. Der begriffliche Wandel hin zu "Nation" vollzog sich "nicht stringent, sondern, unabhängig vom Verfasser, es ist immer wieder der Rekurs auf die traditionelle lokale Bedeutung zu erkennen, sodass vor allem deutlich wird, wie ungewohnt die neue Bedeutung gewesen ist und wie schwerfällig sich der Paradigmenwechsel von vaṭan vollzogen hat." (255)
Alles in allem zeigt die Arbeit von Christiane Czygan zum einen, wie schwierig eine methodisch saubere Zeitschriftenanalyse ist und wo ihre Grenzen liegen. Zeitschriften sind ein verlockendes Material, aber auch sie zeigen nur einen begrenzten Ausschnitt innerhalb eines übergeordneten Diskurses und sagen darüber hinaus nur wenig über die sozialen Praktiken der jeweiligen Zeit aus. Dennoch wird deutlich, dass Ḥürriyet (und natürlich auch Muḫbir) eine wichtige Rolle bei der diskursiven Aneignung europäischer Konzepte im Osmanischen Reich gespielt haben.
Stephan Conermann