Stephan Bierling: Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2014, 304 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-66766-4, EUR 14,95
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An den Anfang des Buches stellt Stephan Bierling die Frage des niederländischen Schriftstellers Cees Nooteboom, die dieser kurz nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 aufwarf: Ob Deutschland wisse, "was es sein will, wenn es groß ist?" (9). Damit verweist Bierling auf die veränderten internationalen Rahmenbedingungen deutscher Außenpolitik nach dem Ende des Kalten Krieges und deutet bereits seine zentrale Leitfrage an, ohne sie direkt zu benennen: der Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer seit 1990 gestiegenen außenpolitischen Macht. Abgesehen davon, dass Bierling damit unhinterfragt wirtschaftliche und militärische Macht als die zentralen Kategorien außenpolitischen Handelns postuliert, mutet es seltsam an, dass er sich der methodischen Verortung seiner Arbeit im politologischen Diskurs ausdrücklich mit dem Argument entzieht, er ziele darauf ab, "den Lesern die Entwicklungen so zu schildern und das Material so aufzubereiten, dass sie sich ihr eigenes Urteil bilden können" (12). Damit suggeriert er ein hohes Maß an Objektivität und verdeckt zugleich seine eigene Perspektivgebundenheit. Darüber hinaus fehlt ein Hinweis auf die wegweisende Studie Weltmacht wider Willen von Christian Hacke, die nicht einmal im Literaturverzeichnis aufgeführt wird, obwohl sie offensichtlich als Inspiration für die Titelfindung diente.
Das Buch setzt mit der deutschen Einheit 1990 ein und gliedert sich entlang der Kanzlerschaften Helmut Kohls, Gerhard Schröders und Angela Merkels in drei Großkapitel. Diese durchaus legitime Entscheidung für einen akteurszentrierten Ansatz verliert ihre analytische Kraft allerdings dadurch, dass Bierling fast ausschließlich auf die Person des Kanzlers bzw. der Kanzlerin fokussiert, während andere außenpolitische Handlungsträger wie die Außen-, Verteidigungs-, Entwicklungshilfe-, Wirtschafts- und Finanzministerien oder gar Interessengruppen und Nichtregierungsorganisationen allenfalls am Rande erwähnt und strukturelle Fragestellungen bestenfalls gestreift werden. Stattdessen bleibt die Arbeit über weite Strecken deskriptiv und handelt einzelne Konfliktfelder der vergangenen Jahrzehnte chronologisch ab.
Die zwei zentralen außenpolitischen Handlungsfelder seit dem Ende des Ost-West-Konflikts erkennt Bierling in der Sicherheits- und Europapolitik, wobei erstere für ihn gleichbedeutend mit Militäreinsätzen der Bundeswehr im Ausland ist. Die erste von drei Phasen dieser so verstandenen Sicherheitspolitik war von einem "Herantasten an Out-of-area-Einsätze" der NATO geprägt (267) und reichte vom Krieg zur Befreiung Kuwaits 1991 bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die Zulässigkeit von Auslandseinsätzen 1994. In die zweite Phase der "Verantwortungsübernahme" fiel demnach die Bosnien-Mission 1995, die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999 und an der Afghanistan-Operation 2002. Mit dem demonstrativen "Nein" von Bundeskanzler Schröder zum Irak-Krieg der USA 2003 begann für Bierling die dritte Phase, die von erneuter Zurückhaltung geprägt war und in der deutschen Enthaltung zur Libyen-Resolution des UN-Sicherheitsrats im Frühjahr 2011 gipfelte.
Ausgehend von dieser unzulänglichen Reduktion von Sicherheitspolitik, die jegliche Form vertrauensbildender und friedenserhaltender Maßnahmen schlicht ignoriert, moniert Bierling, dass eine langfristige Strategie deutscher Sicherheitspolitik bis heute nicht zu erkennen ist. Stattdessen habe sich die Bundesregierung seit 1990 stets dann hervorgetan, wenn es um unmittelbares diplomatisches Krisenmanagement gegangen sei. Diese politisch gewollte Schwerpunktsetzung auf diplomatische, polizeiliche und humanitäre Instrumente der Konfliktbewältigung erfüllte nach Bierling eine reine "Alibifunktion" [1], um nicht an Kampfeinsätzen mitwirken zu müssen (268). Damit wertet er das abrüstungs- und rüstungskontrollpolitische Engagement der Bundesrepublik, das Anfang der 1990er Jahre zu wichtigen Abkommen zwischen den ehemals verfeindeten Blöcken beitrug, kategorisch ab und übersieht, dass die Kontinuität und damit Berechenbarkeit deutscher Außenpolitik über die Zäsur von 1989/90 hinweg ein wesentlicher Faktor dafür war, bestehendes Misstrauen der Verbündeten und Nachbarstaaten gegenüber einem mächtigen, wiedervereinigten Deutschland abzubauen. Frieden zu schaffen und zu wahren, bedeutete für die Bundesrepublik eben nicht einfach, militärische Macht zu "exportieren", sondern durch eine multilateral konzipierte Politik der Institutionalisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen im Rahmen der Vereinten Nationen, der NATO und der Europäischen Union die Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten.
Im zweiten außenpolitischen Handlungsfeld, der Europapolitik, ist nach Ansicht Bierlings ein klarer Machtzuwachs Deutschlands zu verzeichnen, was sich insbesondere in der Finanz- und Staatsschuldenkrise seit 2008 gezeigt habe: "gegen und ohne die Bundesrepublik gab es keine Chance für ein Fortbestehen der Eurozone" (268). Diese auf ökonomischer Leistungsfähigkeit basierende Machtposition Berlins in der Euro-Krise handelt Bierling vergleichsweise ausführlich ab und würdigt das Krisenmanagement der Kanzlerin. Gleichwohl bedauert er, dass Bundestag und Bundesverfassungsgericht der Regierung zu enge Fesseln angelegt und damit eine schnellere und effektivere Krisenreaktion verhindert hätten. Auch sei es Merkel schwergefallen, mit den Anfeindungen umzugehen, die ihr rigider Sparkurs nach sich gezogen habe. Dies zu lernen ist nach Bierlings Auffassung künftig jedoch unabdingbar, schließlich führe Größe zu Macht und Macht zu Ressentiments - "das ist das Gesetz internationaler Politik" (269). Dementsprechend lautet auch die Empfehlung Bierlings für künftige Bundesregierungen: Deutschland müsse sich als "Verantwortungsnation" verstehen (270). Ihre herausragende Rolle innerhalb der EU solle dazu genutzt werden, die europäische Integration voranzutreiben, die Union zu stärken und die Kooperation ihrer Mitglieder zu gewährleisten. In der Sicherheitspolitik wiederum bedeute dies, die Einsatzfähigkeit und Mobilität der Bundeswehr zu verbessern, aktiv an kollektiven Strategiedebatten mitzuwirken und sich mit gleichen Rechten und Pflichten wie die NATO-Partner an Militäreinsätzen zu beteiligen.
Neben dieser doch sehr verengten Perspektive auf die deutsche Außenpolitik, die in den klassischen zwischenstaatlichen Kategorien internationaler Beziehungen verharrt, ist besonders bedauerlich, dass andere wichtige Themenfelder kaum oder gar nicht zur Sprache kommen. So fehlt jenseits der Finanz- und Wirtschaftskrise und einer Erwähnung der Klimapolitik, jeder Hinweis auf die gewachsenen und veränderten Herausforderungen in einer globalisierten Welt wie etwa Fragen der langfristigen Energie- und Wasserversorgung, Chancen und Risiken moderner Datentechnologie für die Gestaltung internationaler Politik, die Auswirkungen weltweiter Massenmigration, die Bedeutung demokratischer Werte und des Menschenrechtsschutzes in der außen- und entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung seit dem Ende des Kalten Krieges. Weder der "Arabische Frühling" noch der Umgang der Europäischen Union mit den anhaltenden Flüchtlingsströmen aus Afrika und Asien - immerhin zwei zentrale außenpolitische Themen, die auch künftig für die deutsche Außenpolitik von Relevanz sein dürften - werden thematisiert. Hinzu kommt die immer wieder durchscheinende, strikte Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik - ein methodischer Ansatz, der längst der Vergangenheit angehört. Dementsprechend lautet Bierlings kaum inspirierendes Fazit: "Die widerwillige Vormacht: zwischen internationalen Anforderungen und innenpolitischen Zwängen" (266).
Insgesamt ist das Ergebnis unbefriedigend. Deskription ist keine Analyse, weshalb das Buch dem Leser nur wenig neue Erkenntnisse bietet, die nicht auch durch konsequente Zeitungslektüre gewonnen werden könnten. Es fehlt jede methodische Einordnung der Arbeit in die aktuellen politikwissenschaftlichen Debatten und selbst unter der Prämisse, dass das Buch für ein breiteres Publikum geschrieben wurde, vermag die von Bierling gewählte Herangehensweise, Außenpolitik umstandslos mit wirtschaftlicher und militärischer Machtpolitik gleichzusetzen, nicht zu überzeugen. Bierling deshalb als "Rüstungsfetischisten" (Rainer Stephan) [2] zu bezeichnen, geht jedoch ohne Zweifel zu weit. Für politik- und geschichtswissenschaftliche Debatten gleichermaßen wäre ein komplexeres Verständnis von internationaler Politik in einer globalisierten Welt allerdings in der Tat wünschenswert gewesen.
Anmerkungen:
[1] Bierling bezieht sich dabei auf eine Formulierung von Michael Rühle: Am Rubikon der Kampfeinsätze, in: FAZ vom 04.02.2008, 8.
[2] Rainer Stephan: Macht und Einfluss. Ansichten eines Rüstungsfetischisten: Stephan Bierling über Außenpolitik, in: SZ Nr. 230 vom 07.10.2014, 20.
Agnes Bresselau von Bressensdorf