Martin Wihoda: Die sizilianischen Goldenen Bullen von 1212. Kaiser Friedrichs II. Privilegien für die Přemysliden im Erinnerungsdiksurs. Übersetzt von Jiři Knap, Wien: Böhlau 2012, 330 S., ISBN 978-3-205-78838-6, EUR 49,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Das hier besprochene Buch ist die erweiterte und überarbeitete deutsche Fassung der Habilitationsschrift des Verfassers, die er 2004 vorlegte und 2005 in tschechischer Sprache veröffentlichte. [1] Es handelt sich um eine kritische Analyse nicht nur der von Friedrich II. im Jahr 1212 für Böhmen beziehungsweise die Přemysliden erlassenen Privilegien selbst, sondern - zumal sie eine herausragende Stelle in der böhmischen beziehungsweise tschechischen Erinnerungsgeschichte einnehmen - auch ihrer Rezeption. Martin Wihoda gehört zur jüngeren, mit der Brünner Universität verbundenen Generation tschechischer Mediävisten und hat sich vor allem mit seiner modernen, kritisch angelegten Monografie über Mährens älteste Geschichte einen Namen gemacht. [2] Nach mehreren Mähren und eher das 11. und 12. Jahrhundert betreffenden Studien hat er nun eine ausführliche Monografie zu den genannten Urkunden Friedrichs II. vorgelegt, in der er sich - wie auch in seiner Mähren-Monografie - mit den Thesen des Prager Mediävisten Josef Žemlička auseinandersetzt.
Abgesehen von der obligatorischen Einleitung und dem Anhang, in dem der Text der Urkunden, ferner genalogische Tafeln und die Bibliografie untergebracht sind, ist das Werk in sechs thematische Hauptkapitel unterteilt. Diese lauten "Stätte der Erinnerung", "Erinnerung der Urkunde", "Erinnerung in der Urkunde", "Mocran et Mocran", "Urkunde in der Erinnerung" und "Bedeutung und Bewertung". Allein schon die Titel zeugen davon, dass der Verfasser sowohl den äußeren als auch den inhaltlichen Elementen der Urkunden viel Aufmerksamkeit widmet und die einzelnen Teilfragen im Hinblick auf die erinnerungsgeschichtlichen Probleme der Urkunden behandelt.
Das Buch dekonstruiert tradierte und neu begründete Auffassungen der böhmischen, tschechoslowakischen und neuerdings tschechischen Historiografie in Bezug auf die Frage nach der verfassungsrechtlichen Entwicklung, der "verfassungsmäßigen" Unabhängigkeit Böhmens vom Römisch-Deutschen Reich im Mittelalter. Dass die böhmisch-tschechische Historiografie dabei stets dazu neigte, die Vergangenheit rigide in ihren je eigenen verfassungshistorischen oder konstitutionellen Konstruktionen zu beschreiben und zu deuten, kann kaum verwundern. In der Reihe der verfassungsstiftenden Dokumente nehmen die sizilianischen Goldenen Bullen eine wichtige Stelle ein, da sie (je nachdem, um wen und um welche historische Periode es sich handelte) Indizien entweder für die Unabhängigkeit oder für die Abhängigkeit Böhmens vom Reich lieferten. Der Verfasser kritisiert die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nahezu kanonisierte Überinterpretation der Urkunden, die sich schließlich nach dem Ende der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn in der tschechoslowakischen Historiografie verankerte. Seine gründliche Analyse offenbart Umstände und Motive der bisherigen Forschungen, wodurch die Entstehung der Urkunden selbst in ihren ursprünglichen historischen Kontext gerückt wird. Dadurch wird einerseits die in der böhmisch-tschechischen Historiografie dominierende Vorstellung des konstitutionsstiftenden Charakters der Goldenen Bullen hinterfragt und andererseits die Entstehung der von Friedrich II. erlassenen Privilegien als Ergebnis der Umgestaltung des Reiches unter Friedrich Barbarossa dargestellt, als das einst als universales Reich verstandene Gebilde allmählich zu einem freien Verband von Reichsfürsten wurde (vgl. 258).
Eine kurze Besprechung kann den zahlreichen, aus der kritischen Analyse erwachsenen Feststellungen Wihodas nicht gerecht werden, zumal es sich um bedeutende Fragenkomplexe handelt, die schon seit Generationen von der Forschung diskutiert werden. Unter anderem stellt Wihoda mit Recht die Entstehung des Königtums in Böhmen im Kontext speziell der böhmisch-polnischen (přemyslidisch-piastischen) Beziehungen in Frage, wie überhaupt sich nach Meinung des Rezensenten die Umstände der böhmischen Königserhebungen im 11. und 12. Jahrhundert sowie ihre eventuellen Zusammenhänge mit der ersten Königswürde in Polen und mit dem Scheitern ihrer Fortsetzung nur in einem breiteren ostmitteleuropäischen Kontext klären lassen. Es ist jedenfalls zu hoffen, dass dieses Buch, ebenso wie die zu Mähren vorgelegte Monografie des Verfassers, lebhafte Diskussionen in der Forschung anstoßen wird.
Anmerkungen:
[1] Martin Wihoda: Zlatá bula sicilská. Podivuhodný příběh ve vrstvách paměti [Die Goldene sizilianische Bulle. Ein bemerkenswertes Ereignis in den Schichten der Erinnerung], Prag 2005.
[2] Vgl. ders.: Morava w době knížeci 906-1197 [Mähren zur Zeit des Herzogtums, 906-1197], Brno 2010.
Daniel Bagi