Dietmar Rothermund: Gandhi und Nehru. Zwei Gesichter Indiens (= Kohlhammer Urban Taschenbücher; 656), Stuttgart: W. Kohlhammer 2010, 259 S., ISBN 978-3-17-021342-5, EUR 23,90
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Mit diesem Buch greift Dietmar Rothermund die Idee zu einer Studie über Jawaharlal Nehru wieder auf, die ihn seit 1961 durch zwei persönliche Interviews mit Nehru als DFG-Forschungsstipendiat für seine Arbeit zum indischen Freiheitskampf begleitet hat und nun Umsetzung findet. In 20 Kapiteln rückt der Autor das wechselseitige Verhältnis von Gandhi und Nehru in den Mittelpunkt und schreibt die Geschichte Indiens als Beziehungsgeschichte, als Geschichte des "Zusammenwirkens" (9) und ihrer Optionen, die diskursiv, argumentativ, bisweilen auch konfrontativ geführt wurde.
Wie in seinen frühen Studien gilt Rothermunds Augenmerk verfassungsrechtlichen und politischen Aspekten. Aus dem Gegensatz Nehrus und Gandhis wird der Weg Indiens in die Unabhängigkeit lebendig. Sie entsteht aus der Spannung zwischen dem "Mahatma" und dem "Pandit" heraus: zwischen Mohandas Gandhi einerseits, dem 1869 geborenen Kind der ländlichen Kleinstadt, Spross der Händlerkaste, dessen Vater als Premierminister eines Fürstenstaats und Richter am Fürstengericht ein Praktiker der Mediation war; und dem fast eine Generation jüngeren Jawaharlal Nehru andererseits, dem Großstadtkind aus Allahabad, Sohn des wohlhabenden und politisch einflussreichen Anwalts Motilal, einem Vertreter von Großgrundinteressen, High Court erprobt und der persischen Hofkultur verbunden.
Rothermund stellt Gandhi als rigorosen Ethiker vor, mit dem besseren Gespür für Massen, der durch sein Konzept von satyagraha auf die Verantwortlichkeiten des Einzelnen zielte und die Nationsbildung von Innen, aus den Dörfern heraus und von unten betrieb. Nehru beschreibt er hingegen von oben und aus der Außenperspektive heraus auf Indien schauend, mit seinem großem Interesse für Wissenschaft, Technik und Industrialisierung und einem versierteren verfassungsrechtlichen Urteilsvermögen, das sich dennoch im Zweifelsfall Gandhis Ansichten unterordnen wird.
Gandhi und Nehru reisten beide zur Barrister-Ausbildung nach England: Gandhi in das konservative England Salisburys 1888, in dem er zum Gentlemen wurde, Vegetarismus lebte und Anschluss zur Theosophischen Gesellschaft fand, bevor er als Anwalt nach Südafrika ging. Nehru dagegen, ab 1905 in England, erscheint als Produkt von Harrow, Cambridge und London, beeindruckt von Lloyd Georges Sozialgesetzen und von utopischen Romanen mit sozialistischer Revolutionstendenz. Kurz: Der "rustikale" Gandhi steht dem "weltläufigen", urbanen Nehru gegenüber - "zwei Gesichter Indiens, die zusammengehören" (14).
Die Wege Gandhis und Nehrus kreuzten sich erstmals im Dezember 1916 nach Gandhis Rückkehr aus Südafrika. Im Laufe 22 prägender Jahre hatte Gandhi dort sein Handlungspotential u.a. bei Aktionen gegen Rassendiskriminierung, durch die Gründung des Natal Indian Congress und der Zeitschrift Indian Opinion erprobt. Den Zulu-Aufstand 1906 wertet Rothermund als existentielle Krise Gandhis, der nun das Konzept der satyagraha und des passiven Widerstands entwickelte und im Manifest "Hind Swaraj" (1909) darlegte.
Gandhis und Nehrus Zusammentreffen fiel damit in die Zeit dreier wichtiger (lokaler) Kampagnen, anhand derer der Autor zugleich das Beziehungsgeflecht Gandhis und seiner engsten Vertrauten - allesamt Juristen - aufzieht, etwa wenn er Gandhi in Champaran 1915 im Einsatz gegen die Ausbeutung der Unterpächter von Indigo-Plantagen zeigt; in Ahmedabad beim Textilarbeiterstreik 1918, als Gandhi das erste Mal gezielt das Fasten einsetzte; sowie in Kheda, 1918, wo Gandhi den Bauern nach Missernten zu Verweigerung der Steuerzahlungen riet. Zum Schlüsselereignis, das beide Nehru und Gandhi zusammenbrachte, wird die Verhaftung Annie Besants 1917, mit der die Nehrus als Mitglieder von Besants Home Rule League eng persönlich verbunden waren.
Der gemeinsame Weg einer "spannungsreichen Partnerschaft" (49) stellte indes bald hohe Anforderungen. 1919 trafen der repressive Rowlatt-Act, Protestaktionen, Unruhen und das Amritsar-Massaker an unbewaffneten Demonstranten zusammen mit den liberalen Montagu-Chelmsford-Verfassungsreformen. Als Gandhi den INC 1920 zur Massenorganisation machte, war Nehru im innersten Kreis als Generalsekretär ebenso dabei wie bei der Entstehung des INC-Verfassungsentwurfs ((Motilal) Nehru Report, 1928). Spätestens ab hier sind die Biografien Gandhis und Nehrus in Freiheit und Inhaftierung aufs Engste ineinander verwoben.
In Rothermunds Darstellung folgt gerade aus der divergierenden Einschätzung verfassungsrechtlicher und -politischer Fragen immer wieder das Potential für Auseinandersetzungen zwischen Nehru und Gandhi. Nehrus Forderung auf dem INC-Jahreskongress 1927 zum Beispiel, die völlige Unabhängigkeit qua Resolution zum offiziellen Ziel des INC zu erklären, war für Gandhi Anlass genug, einen offenen Bruch zwischen beiden vorzuschlagen. Gandhis 11-Punkte-Programm "Substanz der Unabhängigkeit" (1930) kritisierte Nehru als Sammelsurium unverbundener Forderungen statt der dringend erforderlichen staatsrechtlichen Erörterungen. Anders als Gandhi lehnte Nehru die britischen Pläne bei der ersten Round Table Conference in London zu einem konservativen Föderalismus der Fürstenstaaten ab, der ein Gegengewicht zum INC gebildet hätte. Noch gravierender fiel die Bewertung des Gandhi-Irwin-Pakts aus: Während Gandhi den Pakt als Anzeichen basaler gegenseitiger Anerkennung verstand, war dieser für Nehru durch zu weitreichende Zugeständnisse erkauft. Neben der Aussetzung der Kampagnen zivilen Ungehorsams schien Gandhi hinzunehmen, dass die zukünftige Verfassung weitreichende Sicherheitsbestimmungen enthalten sowie entscheidende Ressorts (Verteidigung, Außenbeziehungen, Finanzen) in den Händen der Kolonialregierung belassen würde, was aus staatsrechtlicher Perspektive so erhebliche Beschränkungen auferlegte, dass dadurch die Unmöglichkeit souveräner Staatlichkeit festgeschrieben wurde.
Ganz ähnlich beim Communal Award 1932 über getrennte Wählerschaften für Unberührbare und dem Gandhi-Ambedkar-Pakt. Nehru verstand die Anerkennung des Communal Award als Teil jener Verhandlungsbasis mit der britischen Regierung, hinter die man nicht mehr würde zurücktreten können. Während Nehru sich im Konfliktfall meist Gandhis Politik beugte, insistierte er bei der Regelung des "Transfer of power" auf einem von Mountbatten begleiteten Transferprozess: Statt den Einzel- / Fürstenstaaten einfach selbst die Entscheidung über einen Beitritt zur Indischen Union zu überlassen, beharrte Nehru auf einer Teilung unter britischer Ägide, der Gandhi trotz Entrüstung über eine "Vivisektion" Indiens zustimmte. Das Problem der Teilung der Staatskasse zwischen Indien und Pakistan wurde zum Fiasko. Gandhi erreichte qua Fasten einen Ausgleich - zum großen Missfallen von Hindu-Nationalisten, aus deren Mitte auch der Gandhi-Attentäter Nathuram Godse stammte.
Ab hier zeigt Rothermund Nehrus Weg allein als Parlamentarier und Reformer, der den Weg des unabhängigen Indien in die parlamentarische Demokratie sicherte. Er beschreibt Nehrus Kurs auf Fünf-Jahrespläne unter Vernachlässigung eines schlüssigen Aufbauprogramms für die Landwirtschaft. Anders als für Gandhi mit seiner Vorstellung von der Autarkie des Dorfes als Keimzelle des unabhängigen Indien fand für Nehru demokratischer Fortschritt nur in der Stadt und durch Industrialisierung statt. Dem "visionären Aufbruch" setzt Rothermund schließlich Nehrus "tragisches Scheitern" in der Außenpolitik entgegen (222).
Gandhi und Nehru - Was bleibt? Das Erbe Gandhis sieht Rothermund in der Kombination politischer Konzepte von satyagraha und savordoya als Home rule durch self rule in der engen Verbindung von Selbstbeherrschung und politischer Freiheit: "der selbstbeherrschte Bürger konnte dann auch das Widerstandsrecht gegen einen Staat beanspruchen, dessen Maßnahmen und Gesetze ungerecht waren", bei voller Offenlegung von Zielen und Methoden und als beständige Herausforderung für den Staat: "überall, wo Widerstand in diesem Sinne geleistet wird, ist Gandhis Erbe wirksam." (242) Das Erbe Nehrus besteht für Rothermund in der Übergabe eines demokratischen indischen Staats und dem fortgesetzten Bemühen um argumentative Auseinandersetzung. Nehrus wissenschaftliche Orientierung kontrastiert er nochmals mit Gandhis "intuitivem" Zugang und betont den wechselseitigen Respekt: "Diese innige Beziehung zweier Andersdenkender, die sich achteten und es verstanden, den Umgang miteinander zum Wohl ihrer Nation zu gestalten, ist das gemeinsame Erbe Gandhis und Nehrus, das es sich lohnt zu bewahren." (243) Eine sehr lesenswerte Beziehungsgeschichte der Widersprüchlichkeiten, die anschaulich strukturelle Faktoren, Bedingungen und Netzwerke, politische Ideen und Ereignisgeschichte auf engem Raum zusammenführt.
Eine kleine Anmerkung zur Gestaltung der Kohlhammer-Reihe: Fuß- oder Endnoten wären doch eleganter als ein "Nachweis von Zitaten" im Anhang. Die Literaturliste nennt große "Klassiker", aber kaum Werke, die den Diskussionsstand vertiefen, wie z.B. Stanley Wolperts ebenso markante wie umstrittene Einschätzungen zum "Transfer of Power", die eingehenden Studien zu den Round Table Konferenzen und dem Last Act of Empire 1935, zu "Debating Gandhi" oder zur Positionierung der Literatur zu "communal riots" bei der Teilung Indiens. [1] Gandhis 96-bändige "Gesammelten Werke" sind im Übrigen nun auch in der demokratischen Online-Variante zugängig. [2]
Anmerkungen:
[1] S. z.B. Stanley Wolpert: Shameful Flight. The Last Years of the British Empire in India, Oxford 2006; Andrew Muldoon: Empire, Politics and the Creation of the 1935 India Act: Last Act of the Raj, Ashgate 2009; A. Raghuramaraju (ed.): Debating Gandhi, New Delhi 20123; Ian Talbot / Gurharpal Singh: The Partition of India, Cambridge 2009.
[2] "Collected Works of Mahatma Gandhi Online", http://www.gandhiserve.org/e/cwmg/cwmg.htm [23.03.2015].
Verena Steller