Rosemarie Bovier: Heimat ist das, wovon die anderen reden. Kindheitserinnerungen einer Vertriebenen der zweiten Generation, Göttingen: Wallstein 2014, 160 S., 32 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1525-9, EUR 14,90
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"Derhom" und "dohaus" - diese beiden Begriffe einer "geteilten" Lebensgeschichte ziehen sich wie ein Mantra durch Rosemarie Boviers Buch Heimat ist das, wovon die anderen reden. Kindheitserinnerungen einer Vertriebenen der zweiten Generation. Titel und Untertitel sind exzellent gewählt. Sie führen den Leser noch vor dem Aufschlagen der ersten Seite auf das spannende Feld von doppelter Heimat und doppelter Integration: zum einen in die Erzählheimat der vertriebenen Eltern aus der Batschka - derhom - und zum anderen in die Geburtsheimat der Nachgeborenen. Das ist Hessen - dohaus. Bovier erlebt ihre Kindheit als eine Endlosschleife von Geschichten über Verlust und Verlorenes. "Mein geographisches Ordnungssystem ist die Donau, Sombor, Neusatz, Apatin, Stapar, die Hutweide, die Grundlöcher, der Sallasch und der Kanal. Ich habe nichts davon gesehen, aber höre die Namen fast jeden Tag." (109) Diese Sätze bilden gleichsam den Kern des kommunikativen Gedächtnisses der zweiten Generation von "Flucht und Vertreibung". Heimat - das sind tagtägliche und manchmal nachtnächtliche Geschichten über fremde Landschaften, fremde Straßen und Häuser. Sie sind den im Nachkriegsdeutschland lebenden Kindern genauso präsent wie die Umgebung, in der sie aufwachsen. [1]
Rosemarie Bovier kam 1947 in Deutschland zur Welt. Sie gehört damit zu der bekanntesten Generation der Bundesrepublik, den "68ern". Dies ist konstituierend für die Geschichte, deren Aufbau aus zwei Strängen besteht. Die Erinnerungen an ihre Kindheit inmitten donauschwäbischer Familien in einem Lager in Obersuhl/Hessen sowie die bewusste Spurensuche nach Familiengeheimnissen und der "Schuld der Väter". Erinnerungen und Reflexionen sind hier eng miteinander verwoben. Daraus resultiert eine perspektivische Vielfalt, die die verschiedenen Etappen der Lebensgeschichte der Autorin widerspiegelt: die zehn Kinderjahre im Barackenlager in Hessen, die Reisen als junge Frau nach Serbien, zurück in die alte Heimat von Eltern und Großeltern, und die teilweise schwierige und von Zufällen geprägte Recherche nach Puzzlesteinen donauschwäbischer Geschichte sowie ihrer eigenen Familiengeschichte in der NS-Zeit.
Die atmosphärisch dichte Sprache lässt eindrückliche Erinnerungsbilder entstehen. Der Leser fühlt sich zusammen mit der Erzählerin in das aus der Batschka nach Obersuhl transferierte Dorf Brestowatz eingeschlossen. Er nimmt teil an dem Kampf der donauschwäbischen Familien, an der über Generationen eingeübten Konservierung der eigenen Identität und am Weiterleben in ihren Traditionen in Abgrenzung zur Außenwelt. Gerade daran sind die Brestowatzer Schwaben gewöhnt. Es wird so gekocht wie "derhom", die Großeltern werden gesiezt, der Heiratsmarkt blüht. "Das Lager ermöglicht die Illusion, einen Zipfel der Vergangenheit in der Hand zu halten." (48) Die rosigen Erinnerungen an das Leben im Land zwischen Donau und Theiß haben aber auch eine dunkle Seite, nämlich das Schweigen über die problematischen Anteile des abgeschotteten Lebens dieser Gemeinschaft zwischen Ungarn und Serben sowie über die Verstrickung vieler Familien in das nationalsozialistische System.
Die deutschen Siedler in der Batschka waren keine Grenzgänger wie Böhmen, Mährer oder gar deutsche Reichsangehörige wie Schlesier, Pommern und Ostpreußen. Sie waren Teil des Vielvölkerreichs der österreichisch-ungarischen Donaumonarchie, weit weg von der deutschen Sprachgrenze. Unter Kaiserin Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. wurden west- und südwestdeutsche Kolonisten im Banat, Syrmien und der Batschka, der Tiefebene zwischen Donau und Theiß - heute der nördliche Teil der serbischen Provinz Vojvodina -, angesiedelt. Es war eine bevölkerungs- und wirtschaftspolitische Maßnahme zur Sicherung der Südgrenze des Kaiserreichs gegen das Osmanische Reich sowie zur Landerschließung. Auf diese Weise sollte die Integration dieser Gebiete in die Donaumonarchie erleichtert werden.
Bovier integriert die komplexe Geschichte der Donauschwaben in ihr Erinnerungsnarrativ. Es gibt Geschichten über die Schulzeit ihres Vaters und die Probleme der wechselnden Unterrichtssprachen. Zunächst Ungarisch, dann, als die Batschka nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall Österreich-Ungarns dem neugegründeten Staat Jugoslawien zugeschlagen worden ist, schließlich Serbisch. Sie blättert in Fotoalben, findet retuschierte Fotos und führt den Leser mitten hinein in die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, als aus den donauschwäbischen Siedlern sogenannte Volksdeutsche wurden. Aus deren Kampf im jugoslawischen Staat um Minderheitenrechte und Bewahrung des "Eigenen" in Abgrenzung zu den "Anderen" wurde schließlich ein Krieg entlang ethnischer Grenzen. Die SS hatte ein leichtes Spiel. Zunächst waren die Anwerbungsaktionen inoffiziell, aber in der Gemengelage der festgefahrenen Operationen an der Ostfront und zunehmender Partisanenaktionen auf dem Balkan kam es schließlich zu einem Novum, der Gründung der 7. SS-Freiwilligen-Gebirgsdivision "Prinz Eugen" nach rein ethnischen Prinzipien. Diese Division setzte sich aus Schwaben aus dem Banat und der Batschka zusammen, die für einen Einsatz in der eigenen Heimat rekrutiert worden waren. Die berüchtigten Sühnemaßnahmen auch gegen Zivilisten sind untrennbar mit den Banater und Batschkaer Schwaben verknüpft. [2]
Im Barackenlager Obersuhl wird viel erzählt, tagtäglich das Ideal einer Traumheimat entworfen. Das Trauma bleibt im Verborgenen. Rosemarie Bovier stößt als Kind auf viele Ungereimtheiten und Leerstellen im Familiengedächtnis. Manche Erinnerungslücken füllen sich, als plötzlich Halbgeschwister der Eltern auftauchen. Die heile Welt der donauschwäbischen Oase in Serbien bekommt immer mehr Risse. Hinweise verdichten sich im Laufe der Zeit, aber erst zehn Jahre nach dem Tod des Vaters findet sie konkrete Spuren, werden ihre Ahnungen zur Gewissheit. Franz Bovier wurde im November 1943 zum SS-Totenkopf-Wachbataillon Sachsenhausen eingezogen, Dienstgrad SS-Schütze. Anfang 1945 wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald versetzt. Hier endet eine Geschichte, die trotz der pausenlosen Erzählungen von Eltern, Großeltern, Nachbarn und Verwandten im Obersuhler Barackenlager über die donauschwäbische Vergangenheit von intergenerationeller Sprachlosigkeit, Fremdheit bis hin zu Lügen geprägt ist.
Rosemarie Bovier gelingt ein facettenreiches Narrativ, in dem sich viele Angehörige der zweiten Generation wiederfinden werden. Es sind die Kinder der vertriebenen Deutschen, die zwischen den Welten - der verlorenen Heimat der Eltern und dem neuen Zuhause -, zwischen verschiedenen Dialekten und kulturellen Traditionen aufwuchsen. In beeindruckender Weise verwebt die Autorin Erinnerung, Reflexion und Spurensuche im Familiengedächtnis und in der Geschichte der "fremden" Deutschen. Es ist eine komplizierte Geschichte, in der sich zwei Stränge des kulturellen Gedächtnisses der Nachkriegszeit kreuzen: Deutsche als Opfer und Deutsche als Täter.
Anmerkungen:
[1] Susanne Greiter: Flucht und Vertreibung im Familiengedächtnis. Geschichte und Narrativ, München 2014, 308.
[2] Thomas Casagrande: Die Volksdeutsche SS-Division "Prinz Eugen". Die Banater Schwaben und die Nationalsozialistischen Kriegsverbrechen, Frankfurt a.M. / New York 2003.
Susanne Greiter