Ulrich Baer / Amir Eshel (Hgg.): Hannah Arendt zwischen den Disziplinen (= Manhatten Manuscripts; Bd. 10), Göttingen: Wallstein 2014, 272 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1373-6, EUR 26,90
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Man wird sich vielleicht daran gewöhnen müssen, Hannah Arendts Person und Werk zumeist "zwischen" verschiedenen Kräften vorzufinden, oder genauer: zu verorten - lebensweltlich zwischen Europa, Israel und den Vereinigten Staaten; persönlich zwischen ihrem Lehrer und Liebhaber Martin Heidegger einerseits, ihrem zweiten Ehemann Heinrich Blücher und Freunden wie Hans Jonas und anderen andererseits; zwischen Denken und Handeln, Werk und gelebtem Leben; schließlich zwischen den akademischen Disziplinen, wie dieser neue, von zwei in den USA arbeitenden Literaturwissenschaftlern herausgegebene Band zur Diskussion stellt. Weitere Beispiele böten sich sicherlich an. Doch ist es überhaupt sinnvoll, diese Alternativen in aller Schärfe zu entwerfen? Rufen Hannah Arendts Schriften und ihr philosophisches und politisches Denken nicht vielmehr dazu auf, die Zwischenräume zu überbrücken, zumindest mit feineren Pinselstrichen zu zeichnen und auf diesem Wege Freiräume für neue Dialoge zu schaffen?
Die Frage, die der Band aufwirft, beginnt mit Hannah Arendts eigener Fragestellung insofern, als auch sie sich nicht einfach als interdisziplinäre Denkerin verstanden wissen wollte, sondern als eine, die beispielsweise ethische, moralphilosophische oder politische Probleme auslotete, ohne dass diese gleichsam zwangsläufig der Ethik oder der Politik zugewiesen werden können - nämlich dass sie sich stattdessen denkend und handelnd nicht lediglich interdisziplinär bewegte, sondern häufig außerhalb vorgeschriebener (methodischer) Grenzen einzelner Disziplinen. Das macht Arendt ja so fesselnd und die Beschäftigung mit ihr so ungebrochen attraktiv. Und daraus schöpfen die Herausgeber des vorliegenden, ebenfalls wirkungsvollen und attraktiven Bandes das Potential, ihren Gegenstand, das Denken Hannah Arendts, neu zu prüfen.
Entstanden ist ein Buch, das dazu einlädt, brisante Probleme, die zu Arendts Lebzeiten ebenso aktuell waren wie sie es heute noch sind, verstehen zu wollen. Dabei stehen Politik, Sprache, Dichtung und Philosophie im Mittelpunkt, also Themenfelder, denen Arendt sich ohne Zweifel besonders stark verpflichtet fühlte. Beispielsweise untersucht ein Beitrag ihre "politisch-theoretische Schreibweise" (Thomas Wild), ein anderer "Politik und Poetik der Einfügung" (Amir Eshel), schließlich jener von Barbara Hahn über Hannah Arendts und Martin Heideggers "Dichten und Denken". Warum indessen die Geschichtsschreibung (als Disziplin) hier so spärlich zu Wort kommt, bei den Herausgebern wie bei den Autorinnen und Autoren, überrascht und enttäuscht dann doch ein wenig. Lediglich der Aufsatz von Christine Ivanovic zu Arendts Lektüre von Joseph Conrads Buch "Heart of Darkness" widmet sich ihr ausdrücklich, die Mehrheit der anderen indessen eher am Rande. Dabei hat der wichtige Aufsatz von Ernst Schulin über "Hannah Arendt als Historikerin" seit seinem Erscheinen 1992 nichts an Dringlichkeit eingebüßt. An Karl Jaspers schrieb Arendt nach dem Zweiten Weltkrieg, sie begreife sich mit ihren Arbeiten als "irgend etwas zwischen einem Historiker und einem politischen Publizisten". Noch Jahre später bezeichnete Jaspers in seinem Geleitwort zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft Arendts Ausführungen als "Geschichtsschreibung großen Stils".
Nun kann die Kritik auch umgekehrt werden: Nur die wenigsten Historikerinnen und Historiker beziehen sich in ihren Analysen auf Hannah Arendt. Aber Schulin zufolge verstand Arendt ihr Denken und Urteilen als zutiefst der Geschichte verpflichtet, weil sie daraus Erkenntnisse für die Gegenwart ableitete, weil sie Ideologien misstraute und weil sie erwartete, dass die Intellektuellen lernten, wie sie sagte, "gleichsam ohne Geländer zu denken". In späteren Jahren wandte Arendt sich von der Geschichte ab und konzentrierte sich auf politisch-theoretische sowie philosophische Arbeiten. Auch das wird sie in einer gewissen Weise Jaspers zu verdanken haben, der ihr Vertrauen in die Philosophie trotz Heideggers ungeheurem Missbrauch wiederherstellte. Mit ihrer allmählichen Distanzierung von der Historie hat sich das Missverständnis entwickelt, philosophisches Denken bei Arendt sei von der Geschichte zu trennen, was sich freilich schon vor dem Hintergrund ihrer eigenen geschichtlichen Erfahrungen schwerlich rechtfertigen lässt. Erneut wäre hier ein Zwischenraum zu definieren und mit einer Vielzahl der Geschichten zu füllen. Wenige Bücher haben dies so deutlich illustrieren können wie "Eichmann in Jerusalem", nach dessen Erscheinen Walter Laqueur behauptete, es sei nicht allein bedeutsam, was Hannah Arendt sagte, sondern wie sie das tat.
Dieses "Wie" ist schließlich auch wohl dafür verantwortlich, dass Arendt zeitlebens viele Kontroversen auslöste und dies bis zum heutigen Tag nicht nachlässt. So kommt der vorliegende Band, dessen Schwäche in seiner literaturtheoretischen Dominanz, seine Stärke aber in seiner kulturwissenschaftlichen Offenheit liegt, zur richtigen Zeit heraus, um eine erneute Debatte darüber anzustoßen, wie man Denkräume zwischen den von Arendt adressierten Perspektiven und den von ihr beanspruchten Disziplinen schaffen kann. Es bleibt allerdings zu fragen, ob sie sich nicht zuweilen neben diesen bewegte. Denn der Aufforderung Jaspers', der intellektuellen Schärfe und Systematik von dessen Mentor Max Weber zu folgen, ist sie nicht nachgekommen, und ihrem eigenen Bekenntnis zufolge konnte sie das auch nicht. Besaß sie einen kategorischen und entschiedenen, manchmal unverblümten Schreibstil und sicherlich eine ungebrochene, unbeirrbare Humanität, so fehlte es Hannah Arendt an Handlungsmaximen. So lesenswert und populär ihre Schriften nach wie vor sind, so zurückhaltend sind sie darin, Anleitungen zu politischen und philosophischen Reformen zu geben. Die Faszination auch dieses Bandes über Hannah Arendt speist sich nicht zuletzt daraus, es mehr mit Fragen als mit Antworten zu tun zu haben - aber die Ambivalenz, andererseits, ergibt sich aus dem gleichen Befund.
Benedikt Stuchtey