Rezension über:

Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre (= Einzelveröffentlichungen aus dem Archiv für Sozialgeschichte; Bd. 3), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2013, 716 S., ISBN 978-3-8012-4221-3, EUR 30,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Ursula Rombeck-Jaschinski
Historisches Institut, Universität Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Ursula Rombeck-Jaschinski: Rezension von: Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen. Die Bundesrepublik Deutschland während der 1980er Jahre, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2013, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 7/8 [15.07.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/07/24370.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Meik Woyke (Hg.): Wandel des Politischen

Textgröße: A A A

Seit einigen Jahren wendet die historische Forschung ihr Interesse verstärkt den 1980er Jahren zu. Die Historiker haben begonnen, sich diese wichtige Dekade der bundesdeutschen Geschichte anzueignen, die bis dahin vor allem eine Domäne "meinungsstarker Journalisten und Sozialwissenschaftler" (7) gewesen ist. Die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts waren von tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt, deren Relevanz als "unmittelbare Vorgeschichte unserer Gegenwart" im vorliegenden Sammelband untersucht wird. Unter dem Titel "Wandel des Politischen" wird die zeitgeschichtliche Debatte fortgesetzt, die unter dem Schlagwort "Nach dem Boom" begonnen und seitdem intensiviert wurde. [1]

In den 25 Beiträgen des Sammelbandes, die bereits 2013 im Archiv für Sozialgeschichte erschienen sind, werden unterschiedliche Aspekte der 80er Jahre unter dem Begriff des Strukturbruchs beleuchtet. Eigenständige Kategorien und Begriffe für die 80er Jahre harren noch der Entwicklung. Die thematische Vielfalt des Sammelbandes reicht vom Siegeszug des Neo-Liberalismus und der Zerschlagung der Deutschland AG über die Etablierung neuer Lebensformen und sozialer Bewegungen, das Comeback der Eliten, die Nuklearkrise und die Nachrüstungsdebatte bis zur Krise der deutsch-amerikanischen Beziehungen und zur Regierungspolitik während der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Nach dem Einführungskapitel von Dietmar Süß und Meik Woyke stellt Axel Schildt einige Überlegungen zur Erforschung des letzten Jahrzehnts der Bonner Republik an. Schildt sieht vor allem die erste Hälfte der 80er Jahre in vieler Hinsicht als Fortsetzung der 70er Jahre. Die deutsche Zweistaatlichkeit, die politische Verankerung in Westeuropa sowie ein postnationales Staats- und Verfassungsverständnis wurden lagerübergreifend akzeptiert. Andererseits begannen Mitte der 80er Jahre gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die in den 90er Jahren ihre Fortsetzung fanden. Schildt benennt hier wichtige Themen und Forschungsfelder: die Globalisierung der Finanzwelt, die Veränderung der privaten und öffentlichen Lebenswelten durch die massenmediale Kommunikation, weitreichende Ängste vor Umweltkatastrophen und die Ungleichzeitigkeit der Krisenwahrnehmung.

Am Beispiel der Steuerpolitik vergleicht Marc Buggeln die Durchsetzung neo-liberaler Tendenzen in Großbritannien, den USA und der Bundesrepublik. Im Gegensatz zu den Regierungen unter Premierministerin Margaret Thatcher bzw. Präsident Ronald Reagan verzichtete die Regierung Kohl auf massive Steuersenkungen. Trotz aller wirtschaftsliberalen Rhetorik blieb es in der Bundesrepublik der 80er Jahre bei einer egalitären Verteilung der verfügbaren Einkommen. Dies änderte sich erst in den 90er Jahren. Die Ende der 80er Jahre beginnende, politisch gewollte Auflösung der stabilen Kapitalverflechtungen zwischen deutschen Großbanken und Großindustrie bedeutete die Abkehr von langfristigen Unternehmenszielen zugunsten einer kurzfristigen Orientierung am Ertrags- und Börsenwert mit allen Chancen und Risiken (Beitrag von Christopher Kopper). Der Glaube an die Überlegenheit des "Shareholder Value" machte selbst vor den Gewerkschaften nicht halt. Der Sinn gemeinwirtschaftlicher Unternehmen wurde grundsätzlich in Frage gestellt. Gewerkschaftliche Unternehmen wie die Neue Heimat gerieten wegen personeller Fehler und Skandale in eine fundamentale Krise und wurden schließlich abgewickelt (Peter Kramper).

Die 80er Jahre waren auch eine Phase der Privatisierung. An vorderster Stelle stand dabei die Telekommunikation, der bei der Ablösung der alten Industriegesellschaft Modellcharakter zukam. In Deutschland verblieben Netze und Infrastruktur zur Sicherung der Daseinsvorsorge aber in staatlicher Hand (Gabriele Metzler). Seit 1984 durften auch private Fernsehsender ihr Programm ausstrahlen. Neben den öffentlichen Anstalten etablierte sich ein privater Rundfunkmarkt. Die CDU sah dies als Chance zur Wiederherstellung der politischen Meinungsvielfalt gegenüber dem öffentlich-rechtlichen "Rotfunk" (Frank Bösch).

Veränderungen gab es ferner in der Sozialpolitik. In den 80er Jahren entwickelte sich die Frauenförderung zu einer eigenständigen Aufgabe des Sozialstaats. In einer alternden Gesellschaft verschaffte sich aber auch die "Kukident Generation" verstärkt Gehör (Nicole Kramer). Der Tod des US-Schauspielers Rock Hudson 1985 brachte das Thema Aids in die Schlagzeilen. Die "homosexuelle Lustseuche" wurde anfänglich als starke Bedrohung wahrgenommen. Trotzdem setzte die bundesdeutsche Politik - außer in Bayern - zur Prävention nicht auf Zwang, sondern auf Aufklärung (Henning Tümmers).

Mit den Grünen betrat 1980 eine Partei die Bonner Bühne, die sich als basisdemokratische Alternative zu den etablierten Parteien verstand. Die in den 80ern von einer Kontroverse zwischen "Fundis" und "Realos" geprägte linksökologische Partei stand im Einklang mit dem Zeitgeist, indem sie das ungebremste Wirtschaftswachstum auf Kosten von Umwelt und Natur in Frage stellte (Silke Mende). Die Ökologie wurde in den 80ern zum festen Bestandteil des bundesdeutschen Diskurses. Dazu trugen auch Umweltkatastrophen wie der Chemieunfall von Seveso bei, der zur "Interpretationsmatrize" (326) für spätere Katastrophen wurde (Frank Uekötter / Claas Kirchhelle). Das wachsende Umweltbewusstsein entwickelte sich zum Hemmschuh bei der Planung und Realisierung von Großprojekten wie dem Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen oder Bahnhöfen (Stuttgart 21!). Es ging nicht mehr um Machbarkeit, sondern um die öffentliche Durchsetzbarkeit von Projekten. Der Ingenieur wurde vom Planer zum Kommunikator (Philipp Hertzog).

In diesem Kontext fand auch eine Neudefinition des Machtbegriffs statt. Es ging um die Teilhabe an und die Qualität von Macht. Macht mutierte zur "Power", und Macht nicht zu haben, galt manchen als Ausweis moralischer Überlegenheit (Susanne Schregel). Gleichzeitig wurde der Eliten-Begriff wieder Bestandteil des politischen Diskurses vor allem im Bereich der Bildungs- und Hochschulpolitik (Morten Reitmayer). Den heftigen Streit um die Nachrüstung deutet Philipp Gassert als umfassende gesellschaftliche Selbstverständigungsdebatte. Der Streit war "letztlich eine Arbeit am bundesrepublikanischen Konsens". (497) Auch in der SPD diente die Kontroverse als Katalysator zur Selbstverständigung über Grundsatzfragen (Jan Hansen). Eine der wirkungsmächtigsten Publikationen der 80er Jahre war Ulrich Becks Buch über die Risikogesellschaft. [2] Sie wurde zum Interpretament einer Epoche, in der nukleare und andere Risiken zunehmend als unkalkulierbar galten. Die "Grenzen der Versicherbarkeit" wurden zum "Medium der gesellschaftlichen Risikokommunikation" (Christoph Julian Wehner, 595). Seit den späten 70er Jahren war auch eine kulturelle Entfremdung zwischen Deutschen und Amerikanern feststellbar. Die "Nachfolgegeneration" der unter 40-jährigen sah die Politik der USA weitaus kritischer als die Gründergeneration. Durch diverse Initiativen bemühten sich beide Regierungen um eine Verbesserung (Reinhild Kreis).

Mit Sorge beobachtete die Bundesregierung auch die steigende Bedeutung des Holocaust im amerikanischen Diskurs. Man befürchtete negative Auswirkungen auf die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Bonn bemühte sich um eine Intensivierung des Dialogs mit jüdischen Organisationen in den USA, der durch die Geschichtspolitik Kohls allerdings erschwert wurde (Jacob S. Eder). Im letzten Beitrag beleuchtet Andreas Wirsching die widersprüchliche Politik der Regierung Kohl. Neben den Highlights Wiedervereinigung und europäische Integration gab es viel Schatten. In den 80er Jahren unterblieben dringend nötige Reformen. Die strukturellen Altlasten des Sozialstaats wurden im folgenden Jahrzehnt und darüber hinaus zur Bürde. Die Kosten der Wiedervereinigung kamen hinzu.

Der vorliegende Sammelband bietet einen informativen Einblick in die zentralen Themen der 80er Jahre. Die von etablierten Historikern und Nachwuchswissenschaftlern verfassten Beiträge sind durchweg von guter Qualität und spiegeln den aktuellen Forschungsstand wider. Sie enthalten eine Fülle von Literaturhinweisen, die zu weiteren Forschungen anregen. Zur Durchführung von Seminaren und Übungen bietet der Band eine geeignete Grundlage.


Anmerkungen:

[1] Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.

[2] Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986.

Ursula Rombeck-Jaschinski