Christa Hämmerle / Oswald Überegger / Birgitta Bader-Zaar (eds.): Gender and the First World War, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014, XI + 265 S., ISBN 978-1-137-30219-9, GBP 60,00
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Mit dem Potential einer gendered history des Großen Kriegs haben sich bereits seit Ende der 1980er Jahre vor allem englisch- und französischsprachige Studien auseinandergesetzt. [1] Für den deutschen Kontext waren die Forschungen von Ute Daniel zu Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft wegweisend. Neuere sozial- und kulturgeschichtliche Beiträge richteten den Blick auf das Verhältnis zwischen Militär und Geschlecht sowie die Rolle europäischer Frauenbewegungen im Ersten Weltkrieg. [2] Trotz dieser historiographischen Entwicklung und der Fülle aktueller Buchprojekte anlässlich des Gedenkjahrs 2014 ist die Forschungslage zu Geschlecht und Erstem Weltkrieg noch immer unbefriedigend; selbst diesbezügliche Frage- und Problemstellungen werden von der Mainstream-Geschichtsschreibung nicht selten ignoriert.
Der vorliegende Sammelband tritt diesem historiographischen Ungleichgewicht entgegen. Die Beiträge gehen auf eine Konferenz in Wien mit dem Titel "The First World War in a Gender Context - Topics and Perspectives" zurück. Im Mittelpunkt des transnationalen Projekts stehen folgende analytische Aspekte: Genderkonzepte im Zusammenhang von Front und Heimatfront, Gewalt, Pazifismus und Staatsbürgerschaft. Neben der Berücksichtigung von bereits gut erforschten Bereichen wie der Westfront und den Kriegsgesellschaften Großbritanniens, Frankreichs und Deutschlands bezieht das vorliegende Werk dezidiert auch Beiträge zu häufig marginalisierten nationalen Kontexten wie Österreich, Italien, Litauen und Slowenien mit ein, so die Herausgeber in ihrer Einleitung.
Die ersten Beiträge orientieren sich an der übergeordneten These, nach der die Sphären Front und Heimatfront auf komplexe Weise miteinander verschränkt sind. Dies veranschaulicht zunächst Matteo Ermacoras mikrohistorischer Beitrag über die massive Mobilisierung von Frauen zwischen 1915 und 1917 in Friaul, die zu einem - vorübergehenden - regionalen Wandel der traditionellen Geschlechterverhältnisse führte. Dorothee Wierling bietet einen faszinierenden Einblick in die unterschiedlichen Kriegserfahrungen einer Berliner Intellektuellenfamilie. Ihre Analyse der Korrespondenz zwischen dem Ehepaar Lily und Heinrich Braun, ihrem Sohn Otto, der 1918 an der Westfront fiel, und der befreundeten Kunsthistorikerin Julie Vogelstein verdeutlicht unterschiedliche Konzepte von Männlichkeit und Wahrnehmungen von Gewalt, die sich in den variierenden Lebenssituationen, Kommunikationsebenen und Interpretationsmustern der Korrespondenzpartner zwischen Front und Hinterland widerspiegeln. Jason Crouthamel erläutert den - letztlich erfolglosen - Versuch homosexueller Veteranen, das militarisierte Kameradschaftsideal während der Weimarer Republik zu instrumentalisieren, um gesellschaftliche Vorurteile gegenüber Homosexualität abzubauen.
Die folgenden Beiträge richten den Fokus auf Gewalterfahrungen. Sie hinterfragen Verhaltensstrategien und Diskurse und arbeiten die Auswirkungen von Gewalt auf die Konstruktion von Geschlechterrollen heraus. Julia Köhne konzentriert sich auf die Visualisierung männlicher Kriegshysterie in der wissenschaftlichen Kinematografie 1916 bis 1918 und entlarvt die angebliche Erfolgsgeschichte der Re-Maskulinisierung erkrankter Soldaten als Nachkriegs-Mythos. Christa Hämmerle beschäftigt sich mit den Gewalterfahrungen in den nach 1918 weitgehend beschwiegenen autobiographischen Berichten von Krankenschwestern der Habsburger Monarchie. Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass die Selbstzeugnisse einerseits den Versuch darstellten, die eigenen Kriegserfahrungen in den vorherrschenden gesellschaftlichen Diskurs bezüglich Kriegsdeutung und Legitimierung einzuschreiben, andererseits die individuellen Traumata und Kritik am Massentöten zum Ausdruck brachten. Auch Alison S. Fell untersucht autobiographische Texte. Sie erläutert anhand der Gegenüberstellung des glorifizierten Images britischer und französischer Kriegsheldinnen während des Kriegs und ihrer nach 1918 entstandenen Autobiographien, dass ihr Status als war heroines in der Nachkriegszeit durchaus umstritten war. Im Mittelpunkt von Susan R. Grayzels Analyse britischer und französischer Gender-Rhetorik steht das vor allem von radikalen Feministinnen instrumentalisierte Bild des "Säuglings in der Gasmaske". Claudia Siebrecht setzt sich mit dem Trauerverhalten deutscher Frauen auseinander. Weite Teile der weiblichen Bevölkerung identifizierten sich mit dem gesellschaftlich diktierten Modell stoischer und stolzer Trauer, das von der männlich dominierten Presse und Vertretern der Kirche generell bekräftigt wurde, so die Autorin. Die Rolle von Kindern als Teil der Heimatfront und die transnationale Vergleichbarkeit kindlicher Kriegserfahrungen sind Thema des Beitrags von Manon Pignot über die Mobilisierung französischer Mädchen und Jungen durch Eltern und Lehrer während des Ersten Weltkriegs.
Die letzten Aufsätze des Bandes diskutieren die Aspekte Pazifismus und Staatsbürgerschaft. Bruna Bianchi untersucht internationale pazifistische Zeitschriften, während Ingrid Sharp anti-pazifistische Debatten in der deutschen Frauenbewegung behandelt und dabei aufzeigen kann, dass die Konflikte zwischen dem Bund deutscher Frauenvereine und Pazifistinnen zu einer unwiderruflichen Krise der deutschen Frauenbewegung insgesamt führten. Virginija Jurėnienės Beitrag widmet sich litauischen Aktivistinnen im von Deutschland besetzten Litauen und Teilen Russlands, die nach Kriegsende in der litauischen Unabhängigkeitsbewegung für Bürgerrechte eintraten. Weiterhin untersucht Tina Bahovec die Diskurse über die Mobilisierung slowenischsprachiger Frauen in Kärnten, die sich zwischen 1917 und 1920 zahlreich in der Einigungsbewegung der habsburgischen Südslawen engagierten.
Der Sammelband zeichnet sich neben einer beeindruckenden thematischen Vielfalt insbesondere durch die Fülle der für die einzelnen Beiträge zumeist erstmals erschlossenen Quellenbestände aus. Die Analyse weitgehend unbekannter Briefwechsel, Autobiographien, Zeitschriften und visueller Quellen verdeutlicht die Bedeutung einer gendered history des Großen Kriegs, die die Beziehung zwischen Front und Heimatfront, die Entwicklungen von Geschlechterrollen sowie zahlreiche bislang vernachlässigte Akteure und Akteurinnen in unterschiedlichen nationalen Kontexten fokussiert. Aufgrund der Berücksichtigung jahrzehntelang beschwiegener oder verdrängter Diskurse hinsichtlich Gewalterfahrungen, Gender Disorders und Männlichkeitskonzeptionen werfen die Herausgeber nicht zuletzt neues Licht auf die tieferen Ursachen für die Remilitarisierung und die Entstehung faschistischer Diktaturen im Europa der Zwischenkriegszeit.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Françoise Thébaud: La femme au temps de la guerre de 14, Paris 1986; Gail Braybon / Penny Summerfield (eds.): Out of the Cage: Women's Experiences in Two World Wars, New York 1987.
[2] Vgl. Karen Hagemann / Stefanie Schüler-Springorum (eds.): Home/Front: The Military, War and Gender in Twentieth-Century Germany, New York 2002; Alison Fell / Ingrid Sharp (eds.): The Women's Movement in Wartime: International Perspectives, 1914-19, Basingstoke 2007.
Ruth Nattermann