Andreas Kablitz / Ursula Peters (Hgg.): Mittelalterliche Literatur als Retextualisierung. Das Pèlerinage-Corpus des Guillaume de Deguileville im europäischen Mittelalter (= Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Bd. 52), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2014, 763 S., 23 Farb.-, 1 s/w-Abb., ISBN 978-3-8253-6420-5, EUR 75,00
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Der vorliegende Band versammelt Ausätze zum Thema verjüngender und übersetzender Versionen der Pelerinages-Trilogie von Guillaume de Digulleville: Pelerinage de Vie humaine (datiert 1330-1331/32) [1], Pelerinage de l'Ame (ca. 1355) und Pelerinage de Jhesu Crist (wohl 1358). Diese Texte eignen sich gut für Untersuchungen zu Retextualisierung, Umschreibung und Weiterverwendung von Texten oder Stoffen, denn ihre Lebenskraft und Verbreitung sind außergewöhnlich - und reichen, im Englischen, bis zu William Baspoole (nach 1630). [2] Die Einleitung der Herausgeber liefert einen Forschungsbericht, der auch neueste Arbeiten bis ins Jahr 2014 miteinschließt. Ihr Resümee der Arbeiten (24-34) kann die vielen großen und kleinen Elemente nicht zusammenführen, das muss die weitere Forschung leisten, wobei einige Beiträge viel Arbeit bereiten dürften.
Ursula Peters (Das Pèlerinage-Corpus des Guillaume de Deguileville - Eine europäische Textgeschichte des Spätmittelalters, 37-104), konzentriert sich auf die Geschichte der vielschichtigen Ausbildung einer vielsprachlichen Textfamilie. [3] Die breiteste Aufnahme außerhalb des Französischen fanden die Texte in England, beginnend mit der Bearbeitung des Marien-ABCs durch Chaucer (3. Drittel des 14. Jahrhunderts; diese Stelle entspricht PelVieS, -St und -D 10893-11192). [4] Die Zeit der englischen Regentschaft in Frankreich wirkt sich auch auf die Bearbeitung und Verbreitung der französischen Pelerinages aus (37-104).
A. Kablitz und U. Peters (Namentliche Autorschaft und Textautorisierung, 105-164) untersuchen mit großer Präzision die Art wie sich nicht nur der Autor Guillaume in seine Texte einbaut (der Autor erzählt in Ich-Rede seine Träume), sondern auch spätere Bearbeiter des Textes. Die Folgetexte gehen unterschiedlich mit Autorschaftsmarkierungen um, von der genauen Nennung der Autoren, Bearbeiter und Übersetzer, bis zur Weglassung, woraus Rückschlüsse zu ziehen sind. [5]
M. Bode untersucht das Marien-ABC und seine Nachbearbeitungen sehr sorgfältig, speziell im Blick auf die resultierende Veränderung der spirituellen Aussage, auch unter Einbeziehung der Miniaturen (165-263). [6]
F. Pomel geht mit Feinsinn Rude Entendement (Grobverstehen) an, um an Hand dieser Episode der Vie die nominalistische Philosophie ockhamscher Prägung, wie sie im Rosenroman angelegt und in PelVie ausgebaut ist, zu analysieren (265-286). Pomels Leser sollte erst die Episode, Verse 5093-5686, lesen (zur Not in der deutschen Übersetzung Möhrens und Städtlers in PelVieD S. 192-197): vergnüglich und lehrreich.
G. Veysseyre versammelt ein riesiges Arsenal von Einzelbemerkungen zu diversen Handschriften der drei Pelerinages, meist ohne Datierungen und vor allem ohne Lokalisierungen, letztlich mit dem Ziel, ms. BL Add. 22937 zu datieren (287-320). [7] Die Handschrift enthält alle drei Texte (Vie 1. Fassung [8], Ame und Jhesu Crist), aber die Ausmalung wurde nach 40 Miniaturen abgebrochen. Da sie die Wappen eines reichen burgundischen Ehepaares enthält, arbeitet G.Veysseyre mit großem Aufwand die Eheschließung 1432 als Auftragsdatum heraus (302-313), dies wird dann aber zu Makulatur, weil die Miniaturen "à coup sûr après 1450", auch "guère [...] antérieures à 1460" (318) zu datieren seien (ohne jede sachbezogene, kunsthistorische Begründung). Das Fehlen der Toison d'Or im Wappen des Mannes deute auf vor 1468, dem Jahr der Verleihung des Ordens (mit Einschränkung, 319 n. 107). Das Resümee S. 28 bestätigt die Kompliziertheit der Aussagen.
S. Viereck Gibbs Kamath untersucht die Instrumentalisierung von Aristoteles und Ovid in PelVie, PelVie2 und in Life of Man (1426) (321-341). Bei Guillaume werden sie zu handelnden Personen, die ihre Sichtweise vertreten, wodurch er seinem Leser antikes Denken nahebringt. Viereck beleuchtet den Disput zwischen Aristoteles und "Wisdom", bei dem Guillaume Aristoteles unterliegen lässt: die Niederlage sei kein Symbol für die Ablehnung des aristotelischen Gedankenguts, vielmehr zeige der Disput die aristotelischen Wurzeln der logischen Debatte auf und feiere "Wisdom as a greater Aristotelian than Aristotle" (330).
S. Riedel beleuchtet die lateinischen Übersetzungen, speziell die des PelAme, in den Handschriften London Lambeth Palace 326, Lincoln Cathedral 100 und Paris Arsenal 507 (343-404). Durch Riedels ausführliche Textvergleiche wird deutlich, dass sich diese (unedierten) lateinischen Fassungen zum Teil weit vom Ersttext entfernen. Darin äußere sich der Prozess der Intellektualisierung und einer moral-didaktischen Latinität (385). Abschließend stellt Riedel die Autorschaft des Jean Galloppes für den lateinischen Text der Hs. Ars. 507 in Frage. [9]
S. Lange-Mauriège vergleicht detailliert die Handschriften der deutschen Versfassungen Köln (ohne Miniaturen) und Berleburg mit der Prosafassung der Handschriften Darmstadt und Hamburg, sowie mit den der französischen Handschriften, speziell hinsichtlich der Bildzyklustraditionen (405-540).
R. Kunz untersucht die sog. Berleburger Versübersetzung und lokalisiert sie nach Goetze und Haubrichs in das nördliche Rheinfränkische (541-566). Ihre genaue lexikalische Untersuchung der Wörter, getrennt in 'Nordwörter' und 'Südwörter', bestätigt diese Lokalisierung.
W. Haubrichs vertieft dann die Unterschiede der Berleburger Versübersetzung und ihrer Prosafassungen nach Lautstand, Lexik und Inhalt (567-586). Er benennt den Saarmoselraum als Heimat des Verstextes und stellt interessante Textkorrekturen und leichte Standardisierungstendenzen in den Hss. Darmstadt 201 und Hamburg Codex germ. 18 fest.
K. Mertens Fleury ("Spiegelungen. Metaphern der Retextualisierung im Pèlerinage de vie humaine und den Prologen der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs", 587-617) [10], geht etwa für die Traumallegorie auf den Rückgriff von PelVie auf den Rosenroman ein, der seinerseits dafür auf Macrobius zurückgreift, der die Träume klassifiziert, etc. Auch die Spiegelmetapher (V. 39, 600) fällt nicht vom Himmel, sondern bezieht sich auf den Korintherbrief, womit an das Pauluszitat von V. 1 (596) angeknüpft wird. Ähnlich sind weitere Metaphern wie der Flickweber weitreichend interpretierbar. Die Prologe der Pilgerfahrt spinnen diese rhetorischen Verfahren fort.
I. Biesheuvel zeigt, dass die mittelniederländischen Abkömmlinge (alle bebildert) zunächst aus zwei unabhängigen Übersetzungen bestehen: zum einen den Handschriften Utrecht Catharijneconvent BMH 93 und 's Gravenhage KB 76.E.6, mit Erweiterungen und Adaptationen, dann die Handschrift Berlin SPK germ. fol. 624 mit einigen Erweiterungen und dazu etliche Kürzungen (619-630). Die Inkunabel folgt zu Beginn lose der Version B, um sie dann für die zweite Hälfte schlicht zu kopieren.
F. Meyer identifiziert die Holzschnitte der kastilischen Übersetzung, dem Pelegrinage de vida humana, einer Inkunabel gedruckt 1490 von Henrico Aleman alias Heinrich Mayer in Toulouse, als Kopien nach den Lyoner Drucken des Matthias Husz (1485, 1486, 1488) (631-719). Sowohl dem spanischen Text als auch den Lyoner Drucken liegt PelViePr von 1465 nouveau style zugrunde. Die Buchdruckerei Mayers in Toulouse und seiner Kollegen wird einer eingehenden Untersuchung unterzogen.
Schließlich bietet uns M. Nievergelt "Guillaumes Travels" als Geschichte der Text- und Buchverbreitung des Pelerinage über Europa: welcher Text ist mit dieser weitgereisten Pilgerreise vergleichbar? (721-745)
Anmerkungen:
[1] Vie muss in allen Titeln mit Majuskel geschrieben werden, da es eine allegorische Figur ist.
[2] Ein Text mit vergleichbaren europäischen Ausmaßen ist die Consolatio Philosophiae des Boethius, jüngste Publikationen: M. Bernsen / E. Eggert / A. Schrott (Hgg.): Historische Sprachwissenschaft als philologische Kulturwissenschaft. Festschrift für Franz Lebsanft zum 60. Geburtstag, Bonn 2015, 545-565; 567-578.
[3] S. 53 Zitat Z. 4: veuilliez lies veulliez (= PelVieS, -St und Hs. T f014b). [Hier werden die Sigel der Bibliographie des DEAF benutzt, s. http://www.deaf-page.de; unter PelVieD (http://www.deaf-page.de/bibl/bib99p.php#PelVieD) findet sich ein ausführliches, kritisches Glossar.]
[4] S.62: 0894-11192 lies 10893-11192.
[5] Die Autoren zitieren z.T. Textpassagen mit kritischer Texttoilette (Unterscheidung von u/ v, korrekte Worttrennung, Kommasetzung, etc., vgl. 114f.; 117; etc.), z.T. ohne (S. 119 [Zitat aus BNF, fr. 377]; 120; 121f.; etc.). Das zweite Vorgehen produziert Zitate, die zumindest kurios sind, z.B. "Ich-Rede des 'lacteur'" (134, meint natürlich den [l']acteur), "Verfasser ist der 'lacteur'" (S. 138).
[6] Zitate sind redlich fehlerhaft. 169: moy lies moi, 262: ouvrassc lies ouvrasse (= PelVieS 11171), ebd.: aine lies ame (die Seele, nicht die Leistengegend!, = PelVieS 11175), etc., 263: 11.157-11.192 lies 11.169-11.192. Schade ist, dass man sich wie auch in den anderen Beiträgen mit Jahrhundertdatierungen der Handschriften begnügt, für die Handschrift Paris Arsenal 507 gar mit "aus dem 15. bzw. 16. Jahrhundert" (207) (vgl. jedoch bei Riedel, nach Duval, Anfang 16. Jahrhundert (353)).
[7] Datierung des DEAF: ca. 1460, vgl. http://www.deaf-page.de/bibl/bib99p.php#PelVieS.
[8] 296 n. 20: die Ag. PelVieD stammt von vier Autoren, nicht einem (+2 weitere, + Hg.).
[9] 346: Eine Datierung der Hs. Arsenal 507 wäre schön: Anf. 16. Jahrhundert; ebenso im Anhang [wertvolle Edition des Proömiums der Hs.], 393. 391 n. 124: 225-453 lies 425-453.
[10] "Metaphern der Retextualisierung" (587) bleibt unklar.
Sabine Tittel