Stephan Graham Hitchins: Art as History, History as Art. Jheronimus Bosch and Pieter Bruegel the Elder. Assembling knowledge not setting puzzles (= Nijmegen Art Historical Studies; XXI), Turnhout: Brepols 2014, XIV + 420 S., 277 Abb., ISBN 978-2-503-55455-6, EUR 125,00
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Achim Simon: Österreichische Tafelmalerei der Spätgotik. Der niederländische Einfluß im 15. Jahrhundert, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2002
Frédéric Elsig: Jheronimus Bosch. La question de la chronologie, Genève: Droz 2004
Karl Schade: Ad excitandum devotionis affectum. Kleine Triptychen in der altniederländischen Malerei, Weimar: VDG 2001
Graham Hitchins hat ein zugleich persönlich und subjektiv motiviertes wie auch historisch und kontextuell ausgerichtetes Buch geschrieben. Es ist keine Forschungsarbeit im eigentlichen Sinne, die neue Detailerkenntnisse erbringen würde, sondern vielmehr eine Art Essay, der die Deutungsperspektive auf Bosch und Bruegel korrigieren will. Der rote Faden ist die Grundthese, die schon der Titel des Buches deutlich artikuliert: Bosch und Bruegel sammeln das Wissen ihrer Zeit, vor allem das religiöse und allgemein menschliche, in ihrem jeweiligen zeitpolitischen Kontext. Im Vergleich der beiden Künstler sieht Graham Hitchins Bosch als denjenigen, der die Dinge noch fast ausschließlich aus dem Blickwinkel der Religion wahrnimmt, während er Bruegel für den Realistischen hält, ja fast für einen politischen Künstler (229).
Dabei spricht der Autor sich gegen die Suche nach einem Schlüssel zum Begreifen der vermeintlich kryptischen Symbolik aus. Stattdessen stützt er sich wissenschaftsmethodisch neben der (kultur)historischen Kontextualisierung auf einen medien- und bildwissenschaftlichen Ansatz, indem er thematische oder formale Gemeinsamkeiten der Kunst Boschs und Bruegels mit der dokumentarischen Fotografie und der Kunst der Moderne, etwa Cy Twombly oder Francis Bacon, aufzuzeigen versucht, um zu demonstrieren, wie aktuell oder allgemeingültig die Kunst der beiden Alten Meister noch sei. Ob es immer gelingt, Bezüge herzustellen, muss jeder Leser für sich selbst entscheiden. Anregend ist es in jedem Fall. Und es zeigt, wie sehr die menschliche Wirklichkeit durch (künstlerisch gestaltete) Bilder konstruiert und so ihre Wahrnehmung und Aneignung überhaupt erst ermöglicht wird.
Der Verdienst des Buches liegt darin, den Blick auf Bosch und Bruegel zu weiten und ihn von den allzu sehr einengenden Detailforschungen der Quellenkunde, Ikonografie und Stilkritik auf eine breitere, eher philosophisch-ästhetische Ebene zu heben, um die Künstler nicht im staunenden Unverständnis als historische Sonderfälle und Exzentriker zu belassen oder im Klein-klein des Experten-Fachsimpelns verschwinden zu lassen. Wer also neue Erkenntnisse erwartet, wird eher enttäuscht.
Stephen Graham Hitchins schlägt einen großen Bogen vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit bzw. Renaissance und Humanismus bis zur Gegenwart. So mögen die Ausführungen oft zu allgemein erscheinen und man muss schon viel Geduld und Muße mitbringen, um Verbindungen zwischen all den Themen und Materialien herzustellen. Immer wieder geht es um die Rolle der Bilder im Zusammenhang von Religion, Politik, Bildender Kunst und Medien und dabei besonders um die Darstellung von Gewalt und Grauen. Durch dieses Vorgehen wird letztlich klar, dass sich keiner der beiden Künstler verstehen und würdigen lässt, wenn man ihn auf diese beiden Aspekte reduziert. Vielmehr ist eine entsprechend eingeschränkte Analyse ihrer Kunst sogar zum Scheitern verurteilt.
Die Kontextualisierung erfolgt oft seitenweise über allgemeine Texte, die einem historischen Handbuch entnommen sein könnten und oft ohne direkten Bezug zu den beiden Künstlern stehen - etwa zur Reformation und Renaissance (188ff.). Allenfalls die Befreiung des Geistes wird hier als Voraussetzung für das künstlerische Wirken der Meister veranschaulicht bzw. begründet. Später stellt der Autor dann heraus, dass Bruegels Kunst nicht nur humanistisch geprägt und komisch ist, sondern starke religiöse Züge trägt, wobei er den Künstler in die Nähe des Protestantismus rückt (215).
Der Autor zeigt sich als belesen und diskutiert auch die aktuelle Sekundärliteratur, so etwa in der Frage der Werkstattmitarbeiter und Werkstattorganisation bei Bosch. Doch geht seine Quellenkenntnis nicht so weit, dass er eine relevante Beteiligung von mehreren Familienmitgliedern an Boschs Werken, die etwa das Jheronimus Bosch Research Project für möglich hält, verifiziert werden kann. Im Falle Boschs sind auch einige der Zuschreibungen nicht aktuell (102, Abb. 74, 75). [1] Darüber hinaus sind die Datierungen, wenn überhaupt zu finden, in den Anmerkungen versteckt. Dies zeigt, dass es eben nicht um eine akkurate chronologische Untersuchung geht, in der das Wirken des Malers an konkreten Orten, Personen und Jahreszahlen festgemacht und ausdifferenziert wird, sondern um den Zeitgeist und eine allgemeine Bewertung. Relativ selten steigt der Autor in eine detaillierte Deutung von Werken ein, zum Beispiel indem er Boschs berühmten Garten der Lüste mithilfe der Texte des heiligen Augustinus erläutert (135ff.).
Zusammenfassend liegt der Wert des optisch durchweg ansprechend gestalteten Buches in den vielen Denkanstößen, dem breiten Einstieg in die visuelle Welt von Bosch und Bruegel und nicht zuletzt darin, den engen und unauflösbaren Zusammenhang von religiöser Auffassung, Politik und Weltdeutung im Œuvre dieser beiden Meister in der Malerei und Grafik zu veranschaulichen. Dem von Graham Hitchins gezeichneten Bild nach sind beide nicht Gefangene der Zeitumstände, sondern setzen sich engagiert und kreativ mit ihnen auseinander. Vielleicht wird es in Zukunft noch selbstverständlicher sein, ihre Kunst als "alt" - im historischen Sinn - und zugleich "modern" - im Sinne von "aktuell" - zu verstehen.
Anmerkung:
[1] Hieronymus Boschs Erbe, bearb. von Tobias Pfeifer-Helke u.a., Ausst. Kat. Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, im Dresdner Residenzschloss, Berlin 2015; Stefan Fischer: Hieronymus Bosch. Das vollständige Werk, Köln 2013.
Stefan Fischer