Marian Füssel: Waterloo 1815 (= C.H. Beck Wissen; 2838), München: C.H.Beck 2015, 128 S., 5 Abb., 6 Karten, ISBN 978-3-406-67672-7, EUR 8,95
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Johannes Willms: Waterloo. Napoleons letzte Schlacht, München: C.H.Beck 2015, 304 S., 23 Abb., 1 Farbkarte, ISBN 978-3-406-67659-8, EUR 21,95
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Der Frühneuzeithistoriker Marian Füssel trat unlängst als Exponent einer "Kulturgeschichte der Schlacht" auf [1]: Nach der "Militärgeschichte als Kulturgeschichte" solle auch der Kernbereich klassischer "Generalstabshistorie" methodisch neu erschlossen werden. Füssel setzt dies nun am Beispiel der "wahrscheinlich berühmtesten Schlacht der Welt" (11) in die Tat um. Die Geschichte der Schlacht als "Kulturgeschichte organisierter Gewalt" respektive als Historie einer "sozialen Praxis" zu schreiben, erfordere es, über die Analyse individuellen Handelns oder struktureller Bedingungen hinauszugehen (10f.).
Die Ereignisgeschichte kommt dabei aber keineswegs zu kurz. Füssel beschreibt die militärischen und politischen Entwicklungen bis 1815 und die unmittelbare Vorgeschichte der Schlacht. In deren Verlauf habe Napoleon die "sehr starke" Position (40) Wellingtons unflexibel, ja "geradezu selbstzerstörerisch" (49) frontal angegriffen, worin der Autor neben dem Eingreifen der preußischen Truppen den Grund für Napoleons Niederlage sieht. Den Ablauf der Schlacht bezeichnet Füssel als "kontingent und unüberschaubar", von einer klaren Gliederung aufeinanderfolgender Aktionen habe keine Rede sein können. Besonders betont der Autor die "fragmentierte Perspektive" aller Teilnehmer, vom einfachen Soldaten bis zum Kaiser, die jeweils nur Ausschnitte des gesamten Geschehens hätten wahrnehmen können (54f.). Die Schilderung der einzelnen Kämpfe fällt detailliert und anschaulich aus, wenn Soldaten "Vive l'Empereur" rufend "durch das hohe und nasse Gras" marschieren (64f.) oder Augenzeugen berichten, die französische Kavallerie sei "wie eine Sturmwoge des Meeres" auf Wellingtons Armee zugekommen (68). Solche dramatischen Szenen werden jedoch von nüchternen Passagen konterkariert, etwa wenn Füssel erklärt, dass der Angriff der Kavallerie eher symbolische, "psychologische" Bedeutung gehabt habe (51) und vom unebenen Gelände gebremst worden sei (68).
Bereits im Rahmen dieser mehr oder weniger "klassischen" Schlachtengeschichte spricht Füssel zahlreiche kulturgeschichtliche Aspekte an. John Keegans Ansatz folgend, beschreibt er die "Eigendynamik von Gewalt" wenn ungeschriebene Regeln (etwa der Angriff auf einen von Sanitätern versorgten Verwundeten) von der gegnerischen Seite verletzt werden (35f.). Neben den "Einstellungen zum Töten" (49) werden Fragen der soldatischen Motivation und Religiosität (82) ebenso diskutiert wie die Schlacht als "sinnliches" Ereignis: Vom bis nach Brüssel vernehmbaren Kanonendonner (60) über die Leiden der Verwundeten (83), bis hin zur "olfaktorischen" Komponente des Massensterbens (89).
Rezeptionsgeschichtlich verortet der Autor die Schlacht "an der Schwelle zu einer neuen populären Geschichtskultur", ermöglicht durch technische Innovationen in "Papierherstellung und Drucktechnik", die die Verbreitung von "Schlachtenbildern" in neue Dimensionen hoben. Die aufkommende Romantik habe zudem den "geeigneten Nährboden für die Schlachtenrezeption" gebildet (98). Die Formen bzw. Medien der Erinnerung listet der Verfasser trotz des engen Rahmens der Beckschen Reihe in beeindruckendem Umfang auf: Die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, die baulich-topografische Erschließung des Schlachtfeldes, die persönliche Aneignung oder gar "Einverleibung" des Ereignisses durch Reliquien bis hin zur Verwendung der Zähne von getöteten Soldaten im eigenen Gebiss (102), Romane, Modelle oder Dioramen, Filme, Straßen- und Ortsnamen, Popsongs oder das geflügelte Wort "sein Waterloo finden" (104).
Die generelle Deutung des Ereignisses war selbst lagerintern umstritten: Der offiziellen britischen und preußischen Lesart als "furioser Sieg über die Despotie" stand die Deutung Napoleons als "Rückschlag für die Freiheit in Europa" gegenüber, die auch von britischen Liberalen wie Byron geteilt wurde (111). In Frankreich diente der angeblich heroische Widerstand der kaiserlichen Garde dazu, "den Verlust der Schlacht in einen moralischen Sieg" umzudeuten (79f.). Waterloo fungierte demnach als "Projektionsfläche" für die Darstellung politischer Ideologien oder nationaler Stereotype. Als "Epochenzäsur" sei das Ereignis letztlich gar zu einem "Gründungsmythos der Moderne" erkoren worden (115f.). Diese Überhöhung stellt Füssel jedoch in Frage und zweifelt sehr zu Recht die "Entscheidungsqualität" von Waterloo an. Die politischen und militärischen Machtverhältnisse in Europa 1815 machten einen "Endsieg" Napoleons praktisch unmöglich. Ein Erfolg des Korsen bei Waterloo hätte demnach keinen entscheidenden Charakter gehabt.
Dieser Überblick dürfte verdeutlichen, welchen Parforceritt Füssel mit seinem Waterloobuch leistet: Er informiert anschaulich und differenziert über die Ereignisgeschichte, zeigt verschiedene Ansätze für eine kulturhistorische Bearbeitung der Thematik auf und entfaltet ein höchst beeindruckendes Panorama der geschichtspolitischen und medialen Aufarbeitung des Geschehens. Der Leser gewinnt dadurch ein Gefühl für das "Ereignis" Waterloo, das weit über das eigentliche militärische Geschehen hinausging - und partiell immer noch geht. Dass Füssels Ansatz und der enge Rahmen der Beckschen Reihe eine wirklich detaillierte Ausbreitung der militärischen Operationen verhindern, erscheint angesichts dieser Vorzüge absolut verschmerzbar.
Wer eine genauere operative Analyse wünscht, ist bei der neuen Monografie des Napoleonbiografen Johannes Willms besser aufgehoben. Der Titel "Waterloo" ist allerdings irreführend, da es sich eher um eine Geschichte der "Hundert Tage" handelt, die Willms als "Tragödie eines Mannes" versteht, die auf Elba begann und auf St. Helena endete, mit Waterloo als "Höhepunkt und Peripetie" (9). Nicht alle Franzosen hätten Napoleon 1815 als "Retter" willkommen geheißen (48). Um die skeptischen Teile der Bevölkerung zu gewinnen, habe der Kaiser, so Willms, seine "autoritären Vorstellungen" verleugnen und sich als "konstitutioneller Herrscher kostümieren" (89) müssen. Die reformierte Verfassung des Empires sei jedoch "als bloße Kosmetik durchschaut" worden, die Napoleon doch wieder die alte Machtfülle garantieren sollte (100).
Die Waterlookampagne schildert der Verfasser erst in der zweiten Hälfte des Buches. Hier kommen nun Freunde klassischer Militärgeschichtsschreibung auf ihre Kosten: Minutiös erläutert der Autor die Aufstellungen und Bewegungen der beteiligten Armeen und höchst ausführlich gibt er die strategischen Überlegungen der Feldherrn wieder, insbesondere diejenigen Wellingtons (130-140). Willms geht mit letzterem hart ins Gericht, der Brite habe sich total auf das Szenario einer französischen Offensive gegen seine Armee versteift und die preußischen Truppen schutzlos Napoleons Angriff am 17. Oktober bei Ligny ausgesetzt. "Allein gravierende Fehler" bei der Umsetzung von "Napoleons makellosem Angriffsplan" hätten eine Katastrophe für die Alliierten verhindert, nicht das "vermeintlich überlegene Feldherrengeschick Wellingtons" (140).
Im Vordergrund der Darstellung steht hier eindeutig die "Analyse individuellen Handelns", über die Füssel in seiner Schlachtengeschichte hinausgehen will. Willms kritisiert "die groteske Unfähigkeit des Haudegens Ney" (151), Napoleons "Trödelei" am Tag nach der Schlacht bei Ligny und Marschall Grouchys "absurde Vermutung" (201).
Nach der Schilderung der Schlacht übt der Autor eine detaillierte Manöverkritik, bei der er auch auf Napoleons bis 1815 gängige Strategie und Taktik eingeht. Trotz der Fehler seiner Untergebenen trage Napoleon selbst "die Hauptverantwortung an diesem Ausgang". Er sei von der "konsequenten Verfolgung" seiner üblichen Strategie, überlegene Gegner durch schnelle Bewegungen und Initiativgeist auszumanövrieren, abgewichen (233).
Die Erinnerungsgeschichte spielt bei Willms eine untergeordnete Rolle, wird jedoch keineswegs völlig vernachlässigt. Der Verfasser fokussiert vor allem Wellingtons Bemühungen, Waterloo zu "seiner" Schlacht und "seinem" Sieg zu machen (240). Dies sei aufgrund von zwei Faktoren gelungen: Großbritanniens "Dominanz des europäischen Mächtekonzerts" auf der einen, dem Desinteresse der deutschen Öffentlichkeit an der Schlacht in Belgien, die sich nur schwer in die "Befreiungskriege" einordnen ließ, auf der anderen Seite (242). Neben Großbritannien sei jedoch auch Napoleon im Nachhinein zum "Gewinner seines Desasters" (250) geworden. Waterloo sei zu einem Meilenstein in der Leidensgeschichte des Messias Napoleon verklärt worden, zum Auftakt seines Martyriums auf St. Helena. Ohne die "Défaite glorieuse" wäre es, so Willms, zu einer Historisierung des Korsen gekommen und die Strahlkraft seines Mythos weit schwächer gewesen.
Diese Überlegungen sind interessant und insbesondere die politische Analyse der Hundert Tage ist durchaus lesenswert. Methodisch ist aber zweifellos Füssels Buch spannender. Das militärische Schachspiel, das Willms ausbreitet, wirkt mitunter arg ermüdend. Völlig obsolet ist diese Form der Historiografie jedoch nicht, bietet sie doch die Grundlage, um nachträgliche, geschichtspolitische (Um-)Deutungen entlarven zu können. Insbesondere im Hinblick auf die britische Mythenbildung bietet Willms deutschen Lesern eine anerkennenswerte Aufklärung, die bei Füssel - seinem breiten Ansatz geschuldet - eher oberflächlich ausfällt.
Anmerkung:
[1] Fabian Fellersmann: Rezension von: Marian Füssel / Michael Sikora (Hgg.): Kulturgeschichte der Schlacht, Paderborn 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 2 [15.02.2015], URL: http://www.sehepunkte.de/2015/02/23824.html.
Sebastian Dörfler