Christine Christ-von Wedel / Sven Grosse / Berndt Hamm (Hgg.): Basel als Zentrum des geistigen Austauschs in der frühen Reformationszeit (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; 81), Tübingen: Mohr Siebeck 2014, XI + 378 S., ISBN 978-3-16-153203-0, EUR 99,00
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Die hier dokumentierte Tagung vom Juni 2012 an der Theologischen Hochschule Basel griff das aus der historischen Raumforschung abgeleitete Konzept der "geistigen Region" auf, das Berndt Hamm in einem einführenden Beitrag auf den Oberrhein in der Zeit von 1450-1520 anwendet, und spitzte es auf die Stadt Basel in der Zeit kurz vor und während der frühen Reformation zu. Raum wird dabei nicht als etwas Statisches gesehen, sondern nach Doris Bachmann-Medick als "Metapher für kulturelle Dynamik" aufgefasst, als etwas, das "durch Grenzüberschreitungen und Grenzverlagerungen, durch Verhandlungen, durch Migration und Überlappung, durch das Entstehen netzwerkartiger transnationaler 'imagined communities'" entsteht und sich verändert (V, Vorwort).
Für Hamm ist der Begriff "Kulturlandschaft" zu weit gespannt; er zieht den Begriff "geistige Region" vor, "weil die geistigen Impulse einschließlich der künstlerischen Konzeptionen die politischen Identitäten und Loyalitäten transzendierten" (8). "'Vergeistigung' in humanistischem Sinne bedeutete vor allem programmatische Entbestialisierung des Menschen durch Schulung sprachlicher Eleganz, vornehmlich durch Virtuosität in der Beherrschung des Lateinischen und Griechischen und durch tugendhafte Lebensformung in der Verwirklichung der imago und similitudo Dei" (29). Hier ist allerdings vor einer Idealisierung des Humanismus zu warnen, wenn man nur an die rücksichtslosen Konkurrenzkämpfe der Protagonisten untereinander und ihre damit verbundenen Invektiven denkt. Fasst man die Reformation mit Berndt Hamm als "Medienereignis" auf, liegt es nahe, ihren Anfängen gerade in einer Druckerstadt wie Basel nachzugehen, wie es die Theologen, Historiker, Kirchenhistoriker und Buchwissenschaftler in den 19 Beiträgen dieses Bandes tun.
In einem eigenen Kapitel wird die "Bedeutung Basels als Druckort im 16. Jahrhundert" behandelt (Urs B. Leu). Diese war mit etwa 100 Druckern und Verlegern erheblich, sodass davon gesprochen werden kann, dass die Stadt "durchaus in der oberen Liga der grossen und berühmten Druckorte mitspielte" (55). Im 17. Jahrhundert war diese Hochzeit allerdings vorbei, nun wurden "nur noch etwa halb so viele Titel wie im 16. Jahrhundert gedruckt" (74). Aber nicht nur deswegen ist die Bezeichnung von Basel als "Hauptstadt des humanistischen Druckwesens im Europa der frühen Neuzeit" überzogen (80) - man braucht nur an Venedig oder Paris zu denken. Das Zitat stammt aus einem Beitrag zur "Bedeutung des Bündnisses zwischen Humanismus und Druckwesen in Basel von 1477 bis 1513" (Valentina Sebastiani). Ob man so weit gehen sollte, von einem "Bündnis" zu sprechen ist fraglich: wenn ja, für oder gegen wen oder was?, handelt es sich doch hier nach dem Untertitel eigentlich um eine "Studie zur Zusammenarbeit zwischen Johannes Heynlin und Johannes Amerbach". Besser ist es vielleicht, wie Hamm von einer "Symbiose von Humanismus und Buchdruck zu sprechen" (28). Denn es wird deutlich, dass Drucker damals nicht ohne Humanisten und vice versa existieren konnten. Dem Einfluss von Humanisten-Netzwerken auf das Buchprogramm in und um Basel im frühen 16. Jahrhundert geht denn auch ein Beitrag unter dem Titel "To Print or Not to Print" nach (Milton Kooistra; einziger fremdsprachiger Beitrag). Eine Überschätzung der Bedeutung des eigenen Untersuchungsobjekts scheint mir dann vorzuliegen, wenn es im Fazit des Beitrags zu "Basel und die Versprachlichung der Musik" heißt (Christine Christ-von Wedel): "Bis heute prägen die Vorstellungen des Basler Kreises im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts unseren Musikgeschmack." (134)
Die Freie Stadt am Rhein beherbergte seit 1460 eine Universität und schloss sich 1501 der Eidgenossenschaft an, von wo bald starke Einflüsse der Reformierten, insbesondere aus Bern und dann Genf, kamen. Grundlegend für die geistige Kultur der Stadt war ein Humanistenkreis um den Theologieprofessor Johannes Heynlin und den Drucker Johannes Amerbach, dem später Sebastian Brant, Johannes Geiler, Matthias von Gengenbach, Johannes Reuchlin, Ulrich Surgant und Christoph von Utenheim zugerechnet werden können (Übersicht zu diesen und weiteren "Protagonisten der geistigen Region" 11f.). Sie alle standen in regem Austausch miteinander, auch in Zeiten, als sie nicht in Basel lebten, wovon sich zahlreiche Briefwechsel erhalten haben.
Aus dieser erstrangigen Quelle wird hier immer wieder geschöpft, insbesondere für das Kapitel "Reformatorenbeziehungen", in dem sich allein drei Beiträge Martin Bucer zuwenden, dessen Briefwechseledition derzeit in Erlangen im Gange ist. Hier zeigt sich, in welch engem Geflecht die oberrheinischen und schweizer Städte miteinander standen: Es wird nicht nur die "Emergenz lutherischer Theologie in Basel" aus Capitos Lutherausgabe (Sven Grosse) rekonstruiert, sondern den Beziehungen zwischen Straßburg und Basel aus dem Briefwechsel von Martin Bucer (Matthieu Arnold) oder denjenigen zwischen Basel, Zürich und Bern aus dem Briefwechsel von Oswald Myconius (Rainer Henrich) nachgegangen. Das Funktionieren von humanistischen Netzwerken und ihre Ausstrahlung über den eigenen Wirkungskreis hinaus kann man gut an dem Beitrag "Der Basler Gräzist Simon Grynaeus und die Eheangelegenheit König Heinrichs VIII." verfolgen (Wolfgang Simon), bei dem ebenfalls der Briefwechsel Bucers ausgewertet wird. Grynaeus wandte sich nämlich im Auftrag des englischen Königs mit der Bitte um eine gutachterliche Stellungnahme nicht nur an Bucer, sondern auch an Zwingli, Oekolampad, Melanchthon und Luther.
Das vorletzte Kapitel "Dissidenten" besteht nur aus zwei Beiträgen, die einerseits von der "Bedeutung Basels für die Anfänge des Täufertums" handeln (Hanspeter Jecker), andererseits im Beitrag "Ein unbekannter Brief eines Täuferlehrers" (Christian Scheidegger) die interessante Edition eines in der Zürcher Zentralbibliothek aufbewahrten Antwortschreibens aus Basel auf eine verlorengegangene Anfrage der Täufer von St. Gallen bieten (290-296), das "einen sehr authentischen Einblick in die Unterweisung der frühen Täufergemeinde" erlaubt (274).
Das letzte kurze Kapitel des Bandes ist etwas großspurig mit "Basels europäische Ausstrahlung" überschrieben, obwohl doch nur über Italien (das "'liberale' Basel" als beliebte "Exilstation für italienische Glaubensflüchtlinge", Jan-Andrea Bernhard, 303) und Ungarn gehandelt wird. Überraschend ist die in den letzten beiden Beiträgen (Attila Verók und Ádám Hegyi) herausgearbeitete unerwartet große Ausstrahlung der Basler Druckerzeugnisse insbesondere in den Donau-Karpatenraum (Siebenbürger Sachsen).
Der durch ein Personen- und Sachregister erschlossene Band ist etwas disparat. Die Kapitel sind ungleichgewichtig, die Gliederung etwas willkürlich, die Beiträge nicht immer zwingend dem einen oder anderen Kapitel zuzuordnen. Gleichwohl wird hier für die Zeit kurz vor und während der frühen Reformation in einer wichtigen Stadt und Region interessantes Spezialwissen aus der Buchwissenschaft mit neueren Erkenntnissen der Reformationsgeschichte erfolgreich verknüpft.
Uwe Israel