Angelika Praus: Das Ende einer Ausnahme. Frankreich und die Zeitenwende 1989/90, Marburg: Tectum 2014, XV + 539 S., ISBN 978-3-8288-3308-1, EUR 39,95
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Frédéric Bozo / Christian Wenkel (eds.): France and the German Question, 1945-1990, New York / Oxford: Berghahn Books 2019
Indravati Félicité: Das Königreich Frankreich und die norddeutschen Hansestädte und Herzogtümer (1650-1730). Diplomatie zwischen ungleichen Partnern, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2017
1989 registrierten die meisten Franzosen den Mauerfall mit großer Sympathie, zumal er passend zum Bicentenaire der Französischen Revolution wie ein weiterer Sieg der Ideale von 1789 anmutete. Der Weg zur Vereinigung hingegen wurde dann zumindest in den Pariser Eliten zunächst mit Skepsis, wenn nicht sogar mit offener Ablehnung verfolgt. Es lohnt, diese zwiespältigen, ja widersprüchlichen Reaktionen noch einmal rückblickend zu analysieren, weil sie aufschlussreich für das deutsch-französische Verhältnis der damaligen Zeit, aber auch seine Entwicklung bis heute sind. Zudem wird in der Forschung nach wie vor kontrovers diskutiert, ob die damalige französische Führung unter Staatspräsident François Mitterrand die deutsche Vereinigung nicht doch zu verhindern versucht hat. Insofern kann die Studie von Angelika Praus durchaus Interesse beanspruchen. Allerdings sind Mauerfall und deutsche Vereinigung auch seit längerem ein Gegenstand der deutschen und ausländischen Geschichtswissenschaft. Insbesondere dank verschiedener Editionen diplomatischer Dokumente aus dem Bonner Kanzleramt, dem britischen und dem französischen Außenministerium sowie sowjetischer Provenienz und aufgrund der reichen Memoirenliteratur sowie mehrerer einschlägiger Studien sind wir mittlerweile sehr gut informiert über die Ereignisse, ihre Hintergründe und ihre (unterschiedliche) Wahrnehmung in Deutschland und im Ausland.
Angesichts der sehr guten Forschungslage ist die Wahl des Themas, zumal im Rahmen einer geschichtswissenschaftlichen Doktorarbeit, also mutig zu nennen, vor allem wenn keine neuen Quellen herangezogen werden können. Indes favorisiert Angelika Praus zumindest einen originellen Ansatz, indem sie nämlich die französische Außenpolitik der Jahre 1989/90 in den breiteren Kontext des französischen Selbstbildes von der exception française setzt, das im 17. Jahrhundert entstand, als Frankreich zum führenden Staat auf dem Kontinent aufstieg und gleichzeitig auch zur Kulturgroßmacht. Mit der Französischen Revolution wurde der damit einhergehende Anspruch einer mission civilisatrice noch angereichert um das Selbstverständnis einer Hüterin der Menschen- und Bürgerrechte. Charles de Gaulle fügte dem dann noch den Widerstandsmythos hinzu, demzufolge Philippe Pétain und Vichy-Frankreich nur eine Episode in der französischen Geschichte gewesen seien, die das "ewige Frankreich" unbeschadet überstanden habe, weil die Masse der Franzosen gegen Hitler-Deutschland gestanden und das Land letztlich selber befreit habe. Damit begründete er auch seinen Anspruch auf die Beteiligung Frankreichs an der Besatzung Deutschlands und den Status als eine der Hauptsiegermächte des Zweiten Weltkrieges. Vordergründig schien er damit ebenso Erfolg zu haben wie ab 1958 mit dem Versuch, dank des deutsch-französischen Tandems, einer geschickten Ost-West-Diplomatie und der Entwicklung einer eigenen französischen Atomwaffe Frankreichs Unabhängigkeit selbst in den Zeiten des Bipolarismus zu sichern.
Vor diesem Hintergrund konzentriert sich Angelika Praus verständlicherweise auch nicht nur auf die "Zeitenwende der Jahre 1989/90", sondern zeigt zunächst die historische Entwicklung der Idee von der exception française mit einem Schwerpunkt auf der Zeit de Gaulles (1940-1946 und 1958-1969) auf (I. Kapitel). Anschließend wendet sie sich der Biographie und den Leitideen Mitterrands zu (II. Kapitel), bevor sie zum eigentlichen "Herzstück" ihrer Studie, der Untersuchung der französischen Politik in den Jahren 1989/90, kommt (III. Kapitel), um am Ende auch noch den Nachwirkungen dieses Erbes in Mitterrands letzten Jahren (IV. Kapitel) und in der Zeit seiner Nachfolger nachzuspüren (V. Kapitel). Damit gelingt es der Autorin zweifellos, das die französische Außenpolitik spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und bis heute durchziehende Spannungsverhältnis zu verdeutlichen: zwischen dem eigenen ideologischen und machtpolitischen Superioritätsanspruch und dem zunehmenden faktischen Machtverlust nach 1945. Dabei verkörperte Mitterrand für Angelika Praus geradezu idealtypisch dieses alte, faktisch längst obsolet gewordene französische Denken, eben auch gegenüber dem deutschen Nachbarn, dessen Teilung in zwei Staaten in Kombination mit dem eigenen Siegermachtstatus geradezu eine Voraussetzung für die französische Großmachtposition selbst gegenüber der wirtschaftlich stärkeren "alten" Bundesrepublik Deutschland gewesen war. So lautet denn auch ihr vernichtendes Fazit: Da diesem Gestaltungsanspruch mittlerweile jede realpolitische Basis gefehlt habe und zudem die Dynamik der Entwicklung hin zur deutschen Vereinigung einfach zu stark gewesen sei, sei der französische Staatspräsident 1989/90 zur rein rückwärtsgewandten, bestenfalls reagierenden, wenn nicht sogar destruktiven, auf keinen Fall aber gestaltenden Figur geworden.
Das alles ist durchaus interessant, auch sehr flüssig, indes viel zu ausführlich geschrieben, aber neu ist es keineswegs. Zudem scheint die rein negative Darstellung der Deutschlandpolitik Mitterrands überspitzt: Die bremsende Haltung des französischen Staatpräsidenten zur deutschen Frage mutete zwar aus westdeutscher Perspektive verständlicherweise enttäuschend an, sie entsprang aber einer letztlich durchaus nachvollziehbaren Verunsicherung: aufgrund der völligen Veränderung des Status quo der internationalen Politik, einschließlich der (west-)deutsch-französischen Beziehungen, sowie wegen deutscher Alleingänge wie dem Zehn-Punkte-Plan Helmut Kohls und der vor allem innenpolitisch motivierten Haltung der Bundesregierung in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Ungeachtet offensichtlicher Fehldeutungen und Ungeschicklichkeiten Mitterrands bleibt gleichwohl festzuhalten, dass der französische Staatspräsident - im Gegensatz vor allem zur britischen Premierministerin Margaret Thatcher - "der einzige Kritiker der Wiedervereinigung mit einer konkreten und konstruktiven eigenen Zielperspektive" war (Andreas Rödder). Es handelte sich um eine Zielperspektive, die eine deutsche Vereinigung zudem keineswegs prinzipiell ausschloss, so dass Mitterrand und Kohl am Ende doch wieder zu jenem seit dem Schuman-Plan von 1950 bewährten Kompromissmodell fanden, nämlich der Einbettung des gemeinsamen, vor allem aber des deutschen Potentials und damit auch des hieraus latent erwachsenden deutsch-französischen Gegensatzes in einen europäischen Kontext.
Reiner Marcowitz