Alexander Drost / Michael North (Hgg.): Die Neuerfindung des Raumes. Grenzüberschreitungen und Neuordnungen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013, 256 S., ISBN 978-3-412-20741-0, EUR 39,90
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Der Titel des 2013 erschienenen Sammelbandes verrät auf den ersten Blick nicht seinen sehr spezifischen räumlichen Untersuchungskontext. Alle Beiträge stammen aus dem Kontext der durch die DFG geförderten Graduiertenkollegs "Kontaktzone Mare Balticum: Fremdheit und Integration im Ostseeraum" (GK 619, Förderzeitraum 2000-2009) und "Baltic Borderlands: Shifting Boundaries of Mind and Culture in the Borderlands of the Baltic Sea Regions" (IGK 1540, Förderzeitraum 2009-2018) an der Universität Greifswald, die seit nunmehr 15 Jahren die Ostsee als historischen Begegnungsraum erforschen. Seit dieser Raum 1989 eine neue politische Bedeutung bekommen hat, bemühen sich die Europäische Union, die Anrainerstaaten sowie Erdöl- und Erdgasunternehmen um eine strategische Erschließung der Ostseeregion, die dadurch eines der Spannungsfelder Europas nach dem Fall des Eisernen Vorhangs darstellt. Das Forschungsprojekt "Baltic Borderlands" knüpft an diese "Neuerfindung des Raumes" an, indem es sich "erstmals" vornimmt, "Raumkonstruktionen und Grenzüberschreitungen aus regionaler, aber gleichzeitig multidisziplinärer Perspektive zu untersuchen" (12).
Regional und multidisziplinär heißt hier, den Ostseeraum anhand sehr unterschiedlicher historischer, sprachwissenschaftlicher und soziologischer Raumkonzepte zunächst theoretisch zu erschließen und dann anhand einiger beispielhafter Regionen auf empirischer Ebene genauer zu betrachten. Dieses sinnvolle Vorhaben realisieren die beiden Herausgeber Alexander Drost und Michael North, indem sie eine Reihe von Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengebracht haben, die einen Einblick in den Greifswalder Forschungsdiskurs erlauben. Was dort diskutiert wird, lohnt durchaus der Betrachtung auch von Forschern, die nicht direkt mit den "Baltic Borderlands" vertraut sind. Denn hier wird konkret versucht das umzusetzen, was so oft von jenen Anhängern des "spatial turn" gefordert wird: eine Überwindung des methodologischen Nationalismus zugunsten einer Neuerfindung der regionalen Räume. Dafür steht auch der einzige Verweis auf die Ostsee auf dem Titelbild des Einbandes: Die im Jahre 2000 eröffnete Öresundbrücke, "die nicht nur ein neues Regionalbewusstsein, sondern auch Regionauten entstehen ließ, Menschen, die sich innerhalb der Region bewegen und die Region 'machen'" (12).
Vorweg sei angemerkt, dass der Band nur einen Querschnitte dieses riesigen Forschungsfeldes bietet und keine abgeschlossene neue Meistererzählung darstellt oder darstellen will. Schlaglichter werden auf bestimmte geographische Regionen geworfen, etwa auf die Geschichte der baltischen Staaten, die hier besonders stark vertreten sind, aber auch auf den linguistischen und literarischen Hintergrund von Raumkonstruktionen, Grenzen und Grenzüberschreitungen, sowie ganz allgemeine Überlegungen zur kulturellen Komparation, Diffusion und Verbreitung aus soziologischer Sicht. Es fällt daher nicht leicht, einen roten Faden durch die einzelnen sehr aufschlussreichen Beiträge zu finden. Ein solcher wird auch nicht durch die relativ kurze Einleitung der Herausgeber aufgezeigt. Trotzdem ist der Band auch für solche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler interessant, die sich anderen Regionen, Kontaktzonen oder Borderlands widmen, da hier viele methodologische Überlegungen vorgestellt werden, deren Relevanz sich keineswegs auf den Ostseeraum beschränkt.
Es hat in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben, den Ostseeraum als eine politische, wirtschaftliche oder kulturelle Einheit zu konstituieren. Der bekannteste institutionelle Rahmen war sicherlich jener der Hanse, der die Ostsee seit dem 13. Jahrhundert zumindest aus wirtschaftshistorischer Sicht zusammenwachsen ließ. Ingo Take erläutert in seiner Analyse der Hanse deren "Ordnungsleistungen ohne formale Autorität" (19), die, Takes Ansicht nach, auch heute noch als eine alternative Form globalen Regierens jenseits der nationalstaatlichen Ordnungen fungieren könnten. Gleichheitsprinzip unter seinen Mitgliedern, informelle Netzwerke, formale politische Gleichberechtigung mit vergleichsweise flachen Hierarchien, Schiedsgerichtsbarkeit, hohe Konsensorientierung sowie eine generelle Friedenswilligkeit würden die Hanse, so Take, durchaus als ein vorbildliches Modell erscheinen lassen (43). Ohne sich diesem Optimismus prinzipiell entgegenstellen zu wollen, sei jedoch gefragt, wieso der Autor für das Mittelalter überhaupt von einer nationalstaatlichen Ordnung ausgeht, der die Hanse als "grenzüberschreitendes Regelungsarrangement" (27) entgegen zu stellen sei. Denn dieser Anachronismus irritiert; auch wenn er des Öfteren in anderen historischen Beiträgen des Bandes beabsichtigt scheint, wird er nicht ausreichend erläutert. Mitunter scheinen manche Autoren auch für die Vormoderne von nationalstaatlichen Entitäten auszugehen, die sich dann in administrativen, sozialen, ökonomischen oder kulturellen Räumen auflösen lassen. Ähnlich verfährt auch Michael North, der von einem recht homogenen niederländischen Kultureinfluss im Ostseeraum in der Frühen Neuzeit ausgeht. Sein von Niklas Luhmann und Helmut Klüter inspiriertes Raumabstraktionsmodell, in dem Raum als Element sozialer Kommunikation angesehen wird, gehört zu den überzeugendsten der in diesem Band vorgestellten Raumkonzepte. Dennoch fragt man sich, ob der Einfluss der Niederländer bei der "künstlerischen Raumproduktion" des Ostseeraums wirklich ein einzigartiges Phänomen in Europa war. Wenn North davon ausgeht, dass die Spur niederländischen Kunsteinflusses bis Siebenbürgen reichte (60), dann verliert die kommunikativ konstituierte Raumabstraktion Ostsee doch an Kohärenz.
Der Band gewänne durch weitere Netzwerkanalysen wie der von North noch mehr, wenn er sich auch graphischer Darstellungsmöglichkeiten bedient hätte. Viele Aneinanderreihungen von Namen und Orten, Gruppen und Stilen, würden durch die visuelle Aufbereitung in Form einer Karte das Argument der Raumproduktion noch augenfälliger machen. Ähnliches gilt für bildliche Darstellungen. Auf diese wird auch da verzichtet, wo der Leser auf die direkte Anschauung verwiesen wird. Etwa bei Jens E. Olesen, der zur deutsch-dänischen Auseinandersetzung um Erinnerungsorte im 19. Jahrhundert schreibt und dabei insbesondere die visuelle Wirkung von nicht jedermann bekannten Denkmälern, wie dem sogenannten Idstedt-Löwen, beschreibt (164-166). Hingegen wartet mancher Beitrag, wie etwa der von Manfred Bornewasser, mit (aufgrund der Druckqualität schlecht lesbaren) Differenzialgleichungen auf (221-222), die dem Rezensenten indes als zu esoterisch anmuten und die interdisziplinäre Aufnahmebereitschaft eher mindern als steigern. Das gilt zum Teil auch für die andererseits überaus wichtigen Überlegungen Stephan Kesslers zum linguistischen Grenzbegriff und sprachlichen Grenzen im Raum. Sein Argument erläutert, wie Kreolisierungsphänomene an den Grenzsäumen von Sprachgebieten ohne Vorannahmen von Zentrum-Peripherie-Modellen treffender, nämlich als "topikale Grenzerscheinungen" bzw. "atopikale Grenzziehungen" zu erklären sind. Hier würden auch die kartographische Darstellung das Verständnis dieses sehr dichten Textes erleichtern. Leider ist die einzige Karte (96) derartig unscharf abgebildet, das man so gut wie gar nichts darauf zu erkennen vermag.
Die Vielfältigkeit der Ansätze, der Spezialisierungsgrad der Autoren und die gemeinsame Herausforderung, ein neues integratives und doch differenziertes Raumverständnis zu produzieren, macht die Lektüre dieses Bandes zu einem anspruchsvollen, manchmal zu Widerspruch auffordernden, letztlich aber doch lohnenden Unterfangen. Wer sich auch mit der Geschichte von Räumen und ihrer Bedeutung für die Gegenwart - nicht nur der Ostsee - auseinandersetzt, kann durch die Lektüre einigen Erkenntnisgewinn für weitere Beschäftigung mit dem Thema erwarten.
Benjamin Steiner