Thorsten Burger: Frankfurt am Main als jüdisches Migrationsziel zu Beginn der Frühen Neuzeit. Rechtliche, wirtschaftliche und soziale Bedingungen für das Leben in der Judengasse (= Schriften der Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen; 28), Wiesbaden: Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen 2013, XII + 591 S., eine CD-ROM, ISBN 978-3-9214-3433-8, EUR 34,00
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In die Erforschung der Geschichte der Frankfurter Juden in der Frühen Neuzeit ist seit einigen Jahren Bewegung gekommen. Die vorliegende Studie, die Druckfassung einer 2011 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg vorgelegten Dissertation, nimmt als Untersuchungszeitraum ein sehr langes 16. Jahrhundert in den Blick, konkret die etwa 150 Jahre von der Einrichtung der Frankfurter Judengasse (1462) bis hin zum Fettmilchaufstand (1614). Diese Zeit, die von einem starken, wesentlich durch Einwanderung bedingten Wachstum der jüdischen Bevölkerung Frankfurts geprägt war, bietet sich für eine migrationsgeschichtliche Untersuchung besonders an.
Die Einleitung ist eher knapp ausgefallen. Nach wenigen Worten zur historischen Migrationsforschung im Allgemeinen listet Thorsten Burger einen nicht weiter aus dem Fallbeispiel entwickelten Katalog von sieben Leitfragen auf, die er unter das übergeordnete Ziel verortet, "Tendenzen der Triebkräfte (Push- und Pull-Faktoren) zu erkennen sowie Rückschlüsse auf den Zielort Frankfurt ziehen zu können" (5). Durch die Berücksichtigung "ausgewählte[r] stadt- sowie sozial und wirtschaftsgeschichtliche[r] Aspekte" möchte Burger "Beziehungen zwischen städtischer Obrigkeit, Frankfurter Bevölkerung und den Juden" zusammenführen (ebenda).
Die Studie stützt sich auf eine breite und vielfältige Quellenbasis. Die weitaus meisten Quellen sind aus nachvollziehbaren Gründen christlicher Provenienz. Wichtige Daten haben auch das "Stammbuch der Frankfurter Juden" von Alexander Dietz und die jüdischen Personalblätter von Fritz Shlomo Ettlinger bereitgestellt, von denen Burger nach eigenem Zeugnis 2.836 ausgewertet hat (21). Selbstverständlich überblickt er auch die Forschungslage zur frühneuzeitlichen Geschichte der Juden im Allgemeinen und in Frankfurt am Main im Besonderen gut. Seinem Befund, dass trotz beachtlicher Fortschritte in den letzten Jahren noch viel Forschungsarbeit zu leisten sei (33), ist zuzustimmen.
Die eigentliche Analyse wird durch einen Hinführungsteil vorbereitet, der mit einem Kurzporträt der Reichsstadt Frankfurt im 16. Jahrhundert beginnt. Auch wenn dieses in einigen Teilen notwendigerweise recht holzschnittartig geraten ist und man nicht allen Aussagen bzw. Wertungen zustimmen wird (das Frankfurter Patriziat als "frühabsolutistische[ ] Obrigkeit" [40]?), leistet das Kapitel das, was es soll, nämlich die Kontextualisierung der jüdischen Migrationsbewegungen in der allgemeinen Frankfurter Geschichte zu ermöglichen. Deutlich mehr Raum widmet Burger der Vorstellung der jüdischen Gemeinde. Naheliegenderweise interessiert er sich besonders für deren rasantes Wachstum im Untersuchungszeitraum. Aber auch die Gemeindeorganisation, bei deren Darstellung er sich angesichts der heterogenen Forschungslage zum Teil auf Vermutungen angewiesen sieht, und die "[r]echtliche[n] Rahmenbedingungen jüdischer Existenz" auf städtischer und Reichsebene (Kapitel 4) bezieht er in sein Koordinatensystem ein. Hervorzuheben ist, dass er schon für diesen Teil partiell auf ungedruckte Quellen zurückgreift.
Das eigentliche Herzstück der Studie ist Kapitel 5 zur "[j]üdische[n] Ein- und Auswanderung im Untersuchungszeitraum" und umfasst allein über 150 Seiten (193-353). Burger hat den wesentlich umfangreicheren Teil zur Einwanderung in drei Unterabschnitte gegliedert. Der erste reicht von 1462 bis 1519. Dafür, hier eine Zäsur zu setzen, sprechen verschiedene allgemeine und spezifische Frankfurter Gründe. 1519, das Todesjahr Kaiser Maximilians I., markiert etwa das Ende der großangelegten Judenvertreibungen aus den deutschen Städten und wird in diesem Sinne auch von der Germania Judaica als Epochenjahr verwendet. Auch der Frankfurter Rat rückte um diese Zeit von den Plänen zu einer Ausweisung der Juden ab. Demgegenüber werden zur Begründung der weiteren Binnengliederung des Untersuchungszeitraums (1520-1583, 1584-1614) weniger inhaltliche Gründe als die Quellenlage herangezogen, die sich dank verschiedener zusätzlicher Überlieferungen substanziell änderte. Bei der Untersuchung der jüdischen Auswanderung verzichtet Burger auf eine Unterteilung des Bearbeitungszeitraums.
Die Darstellung verbindet eine quantitative mit einer qualitativen Analyse, wobei die Aussagen zum ersten Untersuchungsabschnitt angesichts der geringen Fallzahlen (insgesamt 58 Zuzugsbewegungen von Juden und Jüdinnen) und Quellendichte im Vergleich zu den folgenden Jahrzehnten vage bleiben müssen. Mit gutem Grund geht Burger von einer Dunkelziffer aus (224). Gleichwohl kann er Tendenzen erkennen, so eine mehrjährige Phase vergleichsweise starker Einwanderung ab 1508 und die Existenz einer recht großen Gruppe von Kreditgebern, Rabbinern und Ärzten unter den Einwanderern (211-215). Er nennt plausible Gründe für die Konjunkturen der Immigration (wie die immer wieder geführten Diskussionen über eine Ausweisung der Juden aus Frankfurt) und hält zahlreiche spezifische Beobachtungen zu einzelnen Einwanderern fest.
In der zweiten und dritten Phase bewegt sich Burger dank der höheren Quellendichte und Fallzahlen auf festerem Boden. So lassen sich für die zweite Phase (1520-1583) mehrere Einwanderungswellen erkennen (251). Anders als in der ersten Phase waren unter den Einwanderern weniger Juden, die aus anderen Orten vertrieben worden waren (260). Für die dritte Phase (1584-1614) hat der Verfasser 213 Einwanderungsbewegungen ermittelt und damit noch einmal eine deutliche Steigerung gegenüber der zweiten mit 125 (in einem mehr als doppelt so langen Zeitraum, 280). Immer noch gab es Einwanderungswellen, aber kaum noch Jahre ohne jede Immigration - mit der einzigen Ausnahme der Zeit des beginnenden Fettmilchaufstands (dessen Schilderung besser in ein anderes Kapitel gezogen worden wäre). Wie in den anderen Phasen kamen die meisten Zuwanderer aus dem Rhein-Main-Raum, Schwaben und Hessen, doch finden sich auch norddeutsche und italienische Herkunftsorte (282). Die Analyse des jüdischen Abzugs aus Frankfurt ist angesichts der geringen Fallzahlen wieder stärker einzelfallorientiert. Neben freiwilligen Umzügen werden ebenso Ausweisungen einbezogen. Ein letztes Unterkapitel bündelt die Ergebnisse der Teilabschnitte und weitet dabei die Perspektive auf den gesamten Untersuchungszeitraum. Die Ergebnisse der quantitativen Analyse werden auch durch Grafiken und Karten aufbereitet (die allerdings leider wegen der geringen Größe bzw. der ungünstig gewählten Graustufen nicht immer ganz deutlich sind).
Kapitel 6 zu den wirtschaftlichen Tätigkeiten der Frankfurter Juden und ihrer ökonomischen Bedeutung baut auf der Forschungsliteratur auf, lässt aber auch eigene Quellenstudien einfließen. Nicht zuletzt geht es Burger an dieser Stelle wieder um eine quantitative Analyse, insbesondere zur Ermittlung der jüdischen Vermögensverhältnisse. Hier gelangt er zu dem klaren Befund: "Die jüdischen Steuerzahler in Frankfurt waren im Vergleich zur restlichen steuerpflichtigen Bevölkerung wohlhabender und besser situiert" (392). Auch in Kapitel 7 zum christlich-jüdischen Zusammenleben kommt der Verfasser zu dem deutlichen Fazit, "dass das christlich-jüdische Zusammenleben über den gesamten Zeitraum von einem durchaus friedlichen Miteinander, das nicht mit einem harmonischen verwechselt werden darf, aller Beteiligten geprägt war" (415). Eine Zuspitzung der Lage für die Juden habe es erst am Beginn des 17. Jahrhunderts gegeben.
Kapitel 8 schließlich ist einem knappen Überblick über die Einwanderung protestantischer Glaubensflüchtlinge in Frankfurt und einem Vergleich mit der jüdischen Migration gewidmet, der angesichts der Kürze nur grob konturiert sein kann und keine völlig neuen Erkenntnisse zutage fördert, gleichwohl einige Spezifika der jüdischen Migration deutlicher akzentuiert, wie etwa, dass die niederländischen Glaubensflüchtlinge sich vielfach zu größeren Gemeinschaften zusammenschlossen, während die Juden allein oder in kleinen Gruppen wanderten. Andererseits wurden die einwandernden Protestanten schon von den Zeitgenossen anders als die Juden als unterschiedliche Gruppen wahrgenommen. Während die Lutheraner unter den Immigranten in Frankfurt leicht zu integrieren waren, blieben die Reformierten, die hinsichtlich ihrer Gottesdienste immer härteren Restriktionen unterworfen und auch von der politischen Partizipation ausgeschlossen wurden, ähnlich wie die Juden in einer Außenseiterposition. Reformierte wie Juden waren der eingesessenen Bevölkerung aber, so Burger, in wirtschaftlicher Hinsicht überlegen, sei es auf dem Feld der "frühkapitalistischen Wirtschaftsmethoden", sei es bei der Geldleihe und dem Münzwechsel (466f.).
Der Schlussteil fasst die Ergebnisse der Studie nicht nur zusammen, sondern formuliert auch Anregungen für weiterführende Studien, wie die "Beziehungen und Vernetzungen der Judenschaften im Reich nach Frankfurt" (477). Ein Anhang, der die beiden Stättigkeiten von 1541 und 1563, die bekannte Abbildung der Judengasse aus dem Merian-Plan von 1628 und eine Reihe von Tabellen enthält, sowie das obligatorische Quellen- und Literaturverzeichnis beschließen den Band. Ein Register fehlt dagegen leider. Daher ist für Recherchezwecke die beiliegende CD-ROM nützlich, die den gesamten Text mit allen Anhängen als pdf-Dokument enthält und auf der dank farbiger Darstellung und Vergrößerungsmöglichkeit die Tabellen besser als im gedruckten Buch zu benutzen sind.
Matthias Schnettger