Olga Weijers: A Scholar's Paradise. Teaching and Debating in Medieval Paris (= Studies on the Faculty of Arts History and Influence; Vol. 2), Turnhout: Brepols 2015, 256 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-55463-1, EUR 45,00
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Vorliegender Band ist im Kern bereits älteren Datums, dabei aber keinesfalls in die Jahre gekommen. Als Olga Weijers, die als eine der besten Kennerinnen des mittelalterlichen Universitätsbetriebs in Frankreich gelten darf, 1993-94 an der École Pratique des Hautes Études einen Vorlesungszyklus zur Geschichte der ersten Universitäten hielt und in Buchform 1995 veröffentlichte [1], wurde das Werk zwar in Frankreich breit rezipiert, nicht aber andernorts. Dies dürfte sich mit der vorliegenden Überblicksdarstellung, einer überarbeiteten und erweiterten, vor allem aber englischsprachigen Fassung des Bandes von 1995, ändern. Denn gut lesbare, vergleichsweise knappe Einführungen in den mittelalterlichen Universitätsbetrieb sind eine rare Spezies. Zu komplex und abseitig scheinen heute die Probleme, mit denen sich insbesondere die Artisten und Theologen in ihren jeweiligen curricula herumzuschlagen hatten. Thematisch Hochkomplexes öffnet sich nur bedingt dem synthetischen Zugriff. Doch so viel sei vorweggenommen: Weijers gelingt - auf der Grundlage ihres stupenden Wissens - der Spagat zwischen nötiger Vereinfachung und gebotener Exaktheit der Fakten aufs Beste.
Der Band umfasst 15 Kapitel, in denen vom Allgemeinen zum Besonderen fortgeschritten wird. Jedes Kapitel, das zunächst die Situation in der (untersten) Artes-Fakultät nachzeichnet, um dann zu den Entwicklungen in den oberen drei Fakultäten des Rechts (im Falle von Paris ausschließlich der Kanonistik, Zivilrecht wurde in der "Zweigstelle" Orléans gelehrt), der Medizin und der Theologie fortzuschreiten, endet mit einer knappen Bibliographie, die die im Text erwähnten Quellen und einschlägige Sekundärliteratur umfasst. Am Schluss findet sich eine äußerst knapp gehaltene "General Bibliography" (247), an die sich ein in Namen vor und nach 1800 gegliederter Index anschließt. Auf die Erstellung von Orts- und Sachindices wurde leider verzichtet.
Richtet sich im ersten Kapitel der Blick auf die Stadt Paris um 1200 mit ihrer Vielzahl an Schulen und Ausbildungsstätten (The Schools and the City, 15-30), werden im folgenden Kapitel Anmerkungen zur Institution "Universität" und den in ihr gelehrten curricula formuliert (The Profession of Scholar, 31-44). Das dritte Kapitel behandelt die Klassifizierung des damaligen Wissensbestandes (The Organisation and Content of Learning, 45-59), während in den folgenden Kapiteln konsequent der Bedeutung von Autoritäten (The Glamour of the Authorities, 61-78), der Veranstaltungsform der lectio (Reading Texts: The Basis of Learning. 79-93) und der universitären quaestio (The Method of Questioning, 95-106) nachgespürt wird. Der zentralen Gattung der disputatio werden gleich zwei Kapitel gewidmet (The Art of Reasoning, 107-120; The Omnipresent disputation, 121-138). Weijers verdeutlicht hier eindrücklich, wie durch die disputatio in all ihren Erscheinungsformen "Western culture's approach to reasoning" (135) maßgeblich geprägt wurde, wie man durch das Sezieren auch noch der allerkleinsten Details eines Problems zu dessen Lösung gelangte und wie durch die fast schon obsessiv anmutende Klärung von Begrifflichkeiten inhaltliche Missverständnisse reduziert wurden - Weijers Seitenhieb auf unsere heutige Debattenkultur gewinnt so seine volle Berechtigung: "It's a practice that would merit imitation in today's debates."(124) Obwohl diese Veranstaltungsform strengen Regelungen unterlag, war in ihr doch eine Konfrontation von Ideen möglich - und es kam durchaus vor, dass sich der die disputatio leitende Magister von der Güte der gegnerischen Argumente überzeugen ließ und daraufhin seine eigene Position änderte. Als Instrument von Lehre und Forschung leistete die disputatio (genauso wie die quaestio) jedenfalls sehr gute Dienste.
Universitäre "Alltagsgeschichte" kommt im neunten Kapitel zu ihrem Recht (Highlights of the University Life, 139-154), in dem nicht zuletzt auch auf universitäre Rituale wie Prüfungen und Abschlusszeremonien eingegangen und nachdrücklich für eine Erforschung der zu solchen Anlässen gehaltenen Ansprachen und Predigten aufgerufen wird. In den folgenden Kapiteln erfährt man Nützliches zur Bedeutung von Sprache - mit einer Art Ehrenrettung des scholastischen Lateins - (Speaking and Writing, 155-164), zur Bedeutung der mündlichen Vermittlung von Wissen und dessen anschließender Verschriftlichung und Verbreitung in Form von reportationes, Diktaten und dem Pecia-System (Oral and Written Language, 165-174). Handschriften und ihr Layout stehen im Zentrum des zwölften Kapitels (Images of Knowledge, 175-194), während im folgenden Abschnitt Hilfsmittel wie Wörterbücher, Repertorien, Indices oder Florilegien in den Blickpunkt des Interesses rücken (Basic Tools of Learning, 195-214).
Gewiss: das akademische Leben war im Paris der ersten Jahrzehnte des 13. Jahrhunderts intensiv und intellektuell stimulierend - für sehr viele wurde "Parisius" zu dem von Jean de Jandun besungenen "Paradisus". Gleichwohl konnte Ungemach drohen: Zensur, Maßregelung und Verfolgung derjenigen Magister, die es etwa trotz fortgesetzter Verbote weiterhin wagten, die libri naturales des Aristoteles zu lesen. Dass es solcherart Unerschrockene gab, erwähnt beispielsweise Guirard de Laon in einer Predigt. Und dass selbst Thomas von Aquin nicht über jeden Zweifel erhaben war, zeigt die Verurteilung einiger seiner Lehrsätze durch den Bischof von Paris 1277. Noch weitere eindrückliche Beispiele werden im vorletzten Kapitel 14 (Dangerous Waters, 215-230) angeführt. Die letzten Seiten geben exemplarisch Einblick in eine Gelehrtenkarriere (A Splendid Career, 231-245). Ausgewählt wurde der englische Gelehrte, Erzbischof von Canterbury und Kardinal Robert Kilwardby (c. 1215-1279), der ab 1231 in Paris studierte, dort Karriere machte, im Dominikanerkonvent zu Oxford Theologie unterrichte, um danach zielstrebig die Leitern der kirchlichen Hierarchie zu erklimmen.
Überblicksdarstellungen wie die hier vorliegende sind das Ergebnis von Verzicht - Verzicht auf diesen oder jenen Namen, diesen oder jenen Sachverhalt, dieses oder jenes Datum. So bieten sich zwangsläufig Angriffsflächen. Weijers Arbeit, die sich an einen breiten Leserkreis wendet und Studenten, Spezialisten und an Universitätsgeschichte Interessierte gleichermaßen anspricht, macht hier keine Ausnahme. Tatsächlich kommen mitunter Zweifel daran auf, ob dem in nahezu jedem Kapitel präsenten Robert Kilwardby trotz all seiner unwidersprochenen Verdienste letztendlich eine derart große Bedeutung zugebilligt werden sollte. Über das ubiquitäre Genre des Sentenzenkommentars wird ebenfalls einiges gesagt, doch mag sich sein immenser Stellenwert dem Leser nicht so recht vermitteln. Und dass dem ausgehenden Mittelalter an der Pariser Universität vergleichsweise wenig Raum eingeräumt wird, ist bedauerlich - diese Überbetonung der Frühphase(n) findet sich freilich nicht nur in der Universitäts-, sondern beispielsweise auch in der Ordensgeschichte. Arabische Übersetzer und Aristoteles-Kommentare arabischer Gelehrter werden gewürdigt, doch vermisst man hier eine Auseinandersetzung etwa mit den Thesen Sylvain Gougenheims, die doch jüngst einiges an Unruhe in der Gelehrtenwelt (und weit darüber hinaus) verursacht haben.
Angesichts des Gesamtergebnisses sind diese Kritikpunkte aber doch eher unter der Rubrik "Quisquilien" zu verbuchen. Weijers hat ein Werk vorgelegt, das auf lange Zeit hin Bestand haben dürfte und als eine der besten Einführungen in die Geschichte der Universität(en) gelten darf, die derzeit auf dem Markt zu finden sind.
Anmerkung:
[1] Olga Weijers: Le maniement du savoir. Pratiques intellectuelles à l'époque des premières universités, Turnhout 1995.
Ralf Lützelschwab