Kerstin Hitzbleck / Klara Hübner (Hgg.): Die Grenzen des Netzwerks 1200-1600, Ostfildern: Thorbecke 2014, 269 S., ISBN 978-3-7995-0897-1, EUR 29,90
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Netzwerke sind hip; Netzwerke sind allerorten - und wir Historiker haben mit dem Netzwerkbegriff ein neues Spielzeug entdeckt, mit dem untergründige Beziehungen oder hintergründige Entwicklungen besser verdeutlicht werden können. So weit, so gut. Aber mehrere Jahrzehnte nach der Introduktion des Netzwerkbegriffes in die mediävistische Forschung, u.a. durch Wolfgang Reinhard, ist auch eine gewisse Skepsis angebracht.
Diese Skepsis, oder wie die Herausgeberinnen des vorliegenden Bandes es ausdrücken, "ein gewisses Unbehagen", war der Anlass eines Workshops, dessen Ergebnisse nun in gedruckter Form vorliegen, wie Kerstin Hitzbleck und Klara Hübner in der Einleitung mit dem seltsam anmutenden Titel "NetzWerkGrenzen" ausführen. Diese Einleitung ist nicht nur die allgemein übliche Inhaltsübersicht des Kommenden, sondern setzt sich auch und vor allem mit den Grenzen des (historischen) Netzwerkes und der historischen Netzwerkforschung auseinander. Ausgehend von diesen Gedanken sollten die "Grenzen des Netzwerkes" das leitende Thema des Workshops und damit auch des Bandes sein (10), eine Feststellung, an der sich die Beiträge dieses Bandes messen lassen müssen.
Den Auftakt des folgenden Reigens bildet Kerstin Hitzblecks tiefgehender und kritischer Artikel "Verflochten, vernetzt, verheddert? Überlegungen zu einem erfolgreichen Paradigma?" (17-40). Am Beispiel des Kölner Klerikers Heinrich von Jülich aus dem 14. Jahrhundert beschreibt sie nicht nur mögliche Fallgruben, sondern nimmt diese zum Anlass, sich mehr als kritisch mit dem Netzwerkparadigma und dessen Anwendungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen. Hierbei stellt sie die überaus wichtige und selten beachtete Frage: welche Verbindungen sind systemisch bedingt, und welche sind netzwerkartig?
Auch der folgende Beitrag von Kristina Odenweiler, "Von der Liste zum Netz? Nutzen und Schwierigkeiten der netzwerkanalytischen Betrachtung historischer Quellen am Beispiel der Quellenliste des Capodolista-Kodex" (sic!) (41-63) nimmt eine historische Quelle in den Blick, eine Familiengeschichte des 15. Jahrhunderts, um die Möglichkeiten und Probleme der Netzwerkforschung deutlich zu machen. Gleicht dieser Beitrag in seiner Argumentation und seinen Ausführungen dem von Kerstin Hitzbleck, so legt die Verfasserin doch größeren Wert auf die soziologischen Aspekte der "Social Network Analysis".
Weitaus weniger theoretisch dagegen ist die Vorstellung des Codex des Rolando Talenti, eines aus Mailand stammenden Kanonikers an der Kathedrale von Bayeux aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die Jessika Nowak in ihrem Beitrag "'Der Codex des Rolando Talenti' - Abbild eines wahrhaften 'Netzwerkes' oder Spiegel eines bemerkenswerten Kunstwerkes?" (65-92) vornimmt. In diesem tiefgehenden und quellennahen Beitrag werden die einzelnen Briefe des Codex auf ihre Netzwerkaussagen hin untersucht. Die Verfasserin kommt dabei zu dem (netzwerkanalytischen) Todesurteil, dass es sich nicht um netzwerkfähiges Material, sondern um eine zielgerichtet zusammengestellte Bewerbungsmappe handelt, wodurch die Interpretation an ihre natürlichen Grenzen stößt.
Geradezu klassisch sind die zwei folgenden Beiträge von Andreas Fischer, "Die Grenzen der Verflechtung: Funktionsweisen und Reichweite kardinalizischer Beziehungen im 13. Jahrhundert" (93-112) und von Jörg Schwarz, "Von der Mitte an den Rand. Johann Waldner (ca. 1430-1502) in den Netzwerken der Höfe Kaiser Friedrichs III. und Maximilians I." (113-136). Im ersteren kehrt Andreas Fischer in klassischer Weise an den Ausgangspunkt der Netzwerkforschung zurück: die päpstliche Kurie. Aber anders als Reinhard steht er den Möglichkeiten der Netzwerkanalyse bei den Beziehungen zwischen Kardinälen und Bittstellern durchaus kritisch gegenüber. Jörg Schwarz hingegen untersucht die Beziehungsgeflechte, die zum Aufstieg und zum Fall des Johann Waldner am kaiserlichen Hof geführt haben. An diese Vorstellung klassischer Netzwerke reiht sich Bastian Walter-Bogedains Beitrag "Informelle Kontaktnetze in der Eidgenossenschaft und am Oberrhein im Kontext der Burgunderkriege (1468-1477)" (137-155), in dem er drei Fälle von Briefverbindungen von jeweils Zweiergruppen aufzeigt.
Nicht die Bildung von Netzwerken, sondern deren bewusste Zerstörung steht dann im Mittelpunkt von Christoph Dartmanns Ausführungen "Über die Schwierigkeiten, Netzwerke zu zerreißen. Zur politischen Kultur der italienischen Stadtrepubliken" (157-173). Bei diesen, aus seiner Habilitation abgeleiteten Beispielen, geht es darum, die von den Stadtrepubliken gewählten Strategien, die Einflüsse politischer Netzwerke, z.B. bei der Besetzung städtischer Ämter, auszuschließen.
Von Italien geht der Blick dann in die Schweiz, wo Regula Schmidt das Thema "'Vorbehalt' und 'Hilfskreis'. Grenzsetzungen in kommunalen Bündnissen des Spätmittelalters" (175-195) behandelt und Heinrich Speich "Netzwerke im Stresstest" (197-222) sieht. Erstere untersucht für ihren Beitrag die kommunalen Bündnisse um Zürich herum, während letzterer einen Zug der Eidgenossen ins Sarganserland im Jahr 1446 in extenso schildert.
Abschließend untersucht Andreas Bihrer die Parteien, die maßgeblich an den Bischofswahlen in Konstanz zwischen 1293 und 1356 mitwirkten und ihre Kandidaten auf den Bischofsstuhl zu hieven versuchten (Hofparteien - ein Konzept der Mediävistik, 223-238), gefolgt von Gerald Schwedler, der über das Thema "Bindungen lösen. Die Anleitung des Bernhard von Clairvaux zum Vergessen" (238-257) referiert. Christian Hesse fiel die Aufgabe zu, die präsentierten Beiträge zusammenzufassen (Netzwerke und ihre Grenzen - zusammenfassende Bemerkungen, 259-269).
Was bleibt nun, nach knapp 270 Seiten, von dem Ansatz der Herausgeberinnen übrig, die Grenzen des Netzwerkes und vor allem das Unbehagen mit dem Netzwerkbegriff in den Blick nehmen zu wollen? Die bittere Antwort kann lauten: nicht viel. Wenn nicht allein die Vielzahl der Ansätze das Dilemma schon als solches verdeutlichen kann, so ist es vor allem der divergierende Gebrauch des Wortes "Netzwerk", der den Band an seine Grenzen stoßen lässt. Haben Kerstin Hitzbleck, Klara Hübner und einige andere eine wohl definierte Vorstellung von Netzwerken, so scheint dieser Terminus bei anderen dem Inhalt nur übergestülpt worden zu sein. So untersucht z.B. B. Walter-Bogedian u.a. die bilateralen Beziehungen zwischen Hans Irmi und Galeazzo Sforza, ohne auch nur auf das Dilemma, wie eben jene bilateralen Beziehungen ein Netzwerk sein können, einzugehen, oder stellen R. Schmidt, H. Speich oder G. Schwedler die Beziehungen zwischen ihrem Thema und dem eigentlichen Netzwerkbegriff nur am Rande, oder gar nicht her. Es soll damit keine Aussage über die Qualität dieser Beiträge getroffen werden, die sich zumeist auf einem relativ hohen und quellenfundierten Niveau befindet. Es muss aber konstatiert werden, dass sich nach dem furiosen und bereichernden Auftakt durch K. Hitzbleck oder K. Odenweiler der Band in eine Vielzahl von Einzelstudien auflöst, die, selbst durch die abschließenden Bemühungen von Christian Hesse, nicht in die von den Herausgeberinnen vorgegebene Richtung gelenkt werden konnten. Das ist schade, da sowohl die kritischen und klugen Stimmen, die am Netzwerkbegriff berechtigte Kritik üben und neue, ungewohnte Wege aufzeichnen, ebenso wenig zu ihrem vollen Recht kommen werden, wie die Einzelstudien, die man in einem solchen Band nicht vermuten wird. Die gebotene Chance, einmal intensiv über Netzwerke anhand des eigenen Materials neu nachzudenken, ist nicht von allen genutzt worden. Als Ergebnis kann man daher konstatieren, dass das Netzwerk den Herausgeberinnen die Grenzen aufgezeigt hat - und vor allem feststellen, dass das Unbehagen über diesen Begriff auch nach diesem Sammelband nicht verschwinden will.
Carsten Jahnke