Rezension über:

Wolfram Pyta / Nils Havemann (eds.): European Football and Collective Memory (= Football Research in an Enlarged Europe), Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015, X + 208 S., ISBN 978-1-137-45014-2, GBP 65,00
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Rezension von:
Kay Schiller
Department of History, Durham University
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Kay Schiller: Rezension von: Wolfram Pyta / Nils Havemann (eds.): European Football and Collective Memory, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2015, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/27286.html


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Wolfram Pyta / Nils Havemann (eds.): European Football and Collective Memory

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Dieser sehr lesenswerte und von den Herausgebern überzeugend strukturierte Aufsatzband ist eine der ersten Publikationen einer neuen Reihe zur Geschichte des Fußballs in Europa. Nach und nach erscheinen bei Palgrave Macmillan die wissenschaftlichen Ergebnisse des von der EU geförderten, von Albrecht Sonntag von der École Supérieure de Sciences Commerciales in Angers geleiteten und 2015 abgeschlossenen internationalen Forschungsprojekts "Football Research in an Enlarged Europe" (FREE). [1]

In den hier versammelten Beiträgen geht es um die Rolle des Fußballs bei der Schaffung kollektiver Identitäten bzw. seine Bedeutung im Rahmen dessen, was in der Nachfolge von Maurice Halbwachs, Pierre Nora und anderen unter der Überschrift "kollektive Erinnerung" verhandelt wird. Das Endergebnis überzeugt weniger durch Systematik als durch eine Vielzahl von Ansätzen und Ergebnissen, was den Lektüregewinn aber nicht mindert. Dabei interessieren sich die Autoren einmal nicht für die meist im Zusammenhang mit dem populärsten Sport in Europa thematisierten nationalen Identitäten. Der Band leistet insofern Pionierarbeit, dass vor allem auf transnationale Zusammenhänge im europäischen Rahmen abgehoben wird.

Insbesondere steht die Frage nach einer paneuropäischen kollektiven Erinnerung im Mittelpunkt. Um die Haupterkenntnis des Bandes vorwegzunehmen: Eine gemeinsame paneuropäische kollektive Erinnerung an Fußballereignissen hat sich trotz der langen Geschichte des Fußballs und der jahrzehntelangen Existenz europäischer Wettbewerbe wie der Fußballeuropameisterschaft (seit 1960) und der Champions League (als Europapokal der Landesmeister seit 1955) bislang nicht entwickeln können. Zwar scheint es einige wenige Gedächtnisorte wie das Heysel-Stadium-Unglück von 1985 zu geben, das sich, wie Clemens Kech nachweist, fest ins europäische Gedächtnis eingeschrieben hat (153), zugleich aber wie andere lieux de mémoire durchaus Neuinterpretationen unterliegt - vom Symbol für europäische Brutalität und Barbarei in den 1980er-Jahren (162) zum allseits akzeptierten Wendepunkt in der Absicherung von Sportgroßereignissen in Europa seit den 1990er-Jahren (169).

Wie die Euro- und Flüchtlingskrisen von 2015 vor Augen führen, ist es wie mit der kollektiven europäischen Erinnerung auch mit der paneuropäischen Identität nicht allzu weit her. Auch der Fußball als populärstes Kulturprodukt mit großem identitätsstiftenden Potenzial hat dies nicht ändern können. Er dient den Fans weiterhin in erster Linie zur Identifikation mit der Nation, "the imagined community of millions [that] seems more real as a team of eleven named people" in Eric Hobsbawms berühmter Formulierung. [2] So bleibt das Berner Wankdorfstadion ein deutscher und ungarischer Erinnerungsort, so wie sich das berühmte Wembleytor 1966 nur in Deutschland und England, aber nicht in Frankreich, wie Jean Christoph Meyer zeigt, ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat. Und George Best war nur ein britischer Fußball-, Frauenheld und Trinker, wie David Ranc überzeugend darlegt (146).

Woran das liegt, lässt sich Wolfram Pytas kluger Einleitung entnehmen. So fehlt es etwa an einer genuin europäischen Öffentlichkeit, jenem von Jürgen Habermas beklagten Desiderat, die auch so lange nicht entstehen wird, wie Kommunikationsräume und Medienlandschaft in Europa vor allem nationalstaatlich organisiert sind (9). Und obgleich es verführerisch ist, in den europäischen Wettbewerben einen Versuch zu sehen, die europäische Integration mittels der "soft power" des Fußballs voranzutreiben, zeigt Jürgen Mittag, dass dies keineswegs die Absicht war. Die UEFA (gegründet 1954) und ihre Turniere verdanken sich im Wesentlichen rein sportpolitischen und wirtschaftlichen Interessen (47; siehe hierzu auch Borja Garcia-Garcia et aliis 89). Immerhin unterliefen die Pokalwettbewerbe die vom Kalten Krieg gezogenen Grenzen, indem sie regelmäßige Begegnungen zwischen west- und osteuropäischen Mannschaften ermöglichten.

Steht es schlecht um ein paneuropäisches Fußballgedächtnis, so liefert der Band doch eine Vielzahl von Beispielen von interkulturellen Beeinflussungen im Sinne einer histoire croisée bzw. transnational oder entangled history. Dass diese Begriffe allerdings nicht eingehend problematisiert werden, während der Leser immer wieder auf die Klassiker der historischen Erinnerungsforschung aufmerksam gemacht wird, ist bedauerlich.

Anhand von Real Madrid, Gewinner der ersten fünf Landesmeisterpokale von 1956 bis 1960, zeigen etwa Borja Garcia-Garcia und seine Mitautoren überzeugend, wie der von diesem Verein gespielte attraktive Fußball zum Symbol für die vorgebliche Modernität Spaniens wurde und wie das Land auch deshalb nach zwei Jahrzehnten der Isolation wieder Anschluss an seine europäischen Nachbarn fand (95). Dazu trug auch bei, dass man mit einer Mannschaft mit internationalen Stars wie Alfredo di Stéfano, Raymond Kopa und dem Ungarnflüchtling Ferenc Puskás antrat. Analog hierzu belegt der Aufsatz von Geoff Hare über das letzte der fünf Finalspiele zwischen Real und Eintracht Frankfurt 1960 im Glasgower Hampton Park sehr eindrücklich, wie das schottische Publikum anhand dieses einen Spieles die Rückständigkeit der Spielweise der eigenen Mannschaften erkannte. Allenfalls wenn man beide Aufsätze parallel liest, mag man dem paradox klingenden Urteil zustimmen, dass die fünfjährige Dominanz von ausgerechnet Francos Lieblingsverein den Beginn einer europäischen Fußballöffentlichkeit markierte (98). Allerdings ist davon wenig im kollektiven Gedächtnis haften geblieben.

Zuletzt sei noch angemerkt, dass der positive Eindruck des Bandes durch eine Vielzahl sprachlicher Unzulänglichkeiten, von einfachen Tipp- über Übersetzungsfehlern, bis zu grammatikalischen und stilistischen Unebenheiten, getrübt wird. Wenn man allerdings die Gepflogenheiten mancher englischer Verlage kennt, denen es in erster Linie um Gewinnmaximierung zu gehen scheint, weshalb man glaubt, sich einen guten Copy Editor sparen zu können, zögert man, dieses Manko den deutschen Herausgebern anzulasten.


Anmerkungen:

[1] Siehe auch die vielfältigen Materialien, Informationen, Policy Briefs und Papers auf der ausgezeichneten Projektwebseite http://www.free-project.eu/Pages/Welcome.aspx.

[2] Eric Hobsbawm: Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge 22012, 143.

Kay Schiller