Thierry Sarmant: 1715. La France et le monde, Paris: Editions Perrin 2014, 461 S., ISBN 978-2-2620-3331-6, EUR 24,00
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Jubiläen haben ihren eigenen Reiz. Wiewohl die Form der Erinnerungskultur die letzten hundert Jahre über zumal hierzulande grundlegenden Wandlungen ausgesetzt war, scheint der moderne Kulturbetrieb ohne Referenz an als Fixpunkte empfundene historische Daten nicht mehr vorstellbar. Bedürfte es hierfür eines Beweises, so genügt die schiere Flutwelle mehr oder minder einschlägiger Veröffentlichungen, Ausstellungen und anderweitiger Veranstaltungen zum hundertsten Jahrestag des Kriegsausbruchs 1914, damit einhergehend die Neufokussierung auf einen Konflikt, welcher die Jahrzehnte zuvor nicht gerade im Mittelpunkt der historiografischen Aufmerksamkeit gestanden war.
Doch nicht allen Jahrestagen widerfährt eine solche Wert-, oder gar Neuschätzung. Blicken wir in das entsprechende Potential des laufenden Kalenderjahres A.D. 2015, so zeigen Buchmarkt und Veranstaltungswesen ein gewisses, wenn auch nicht übertriebenes Interesse für die 200. Wiederkehr der Schlacht zu Waterloo und der damit einhergehenden definitiven Neuordnung der europäischen Landschaft. [1] Anderen Memorien wurde zuvorderst landesspezifische Wahrnehmung zuteil: im angelsächsischen Raum dem Untergang der MS Lusitania 1915 [2] oder der Schlacht von Azincourt 1415 [3], im schweizerischen der Häufung der '15er-Jahre von nationaler Bedeutung. [4] Weitgehend unbeachtet hingegen blieb die 800. Wiederkehr des epochalen Treffens zu Bouvines. Jenseits der klassischen militärischen "Entscheidungsjahre" aber, sollte unser kleiner Parcours auch staatliche oder personell gebundene Kommemorationen nicht aus dem Auge verlieren. 1215 markierte die Magna Charta [5] den Beginn des Autoritätsverlustes einer Institution, deren französischer Gegenpart von nun an im Steigen begriffen war: der Monarchie. Den Höhepunkt dieses Prozesses bildete fraglos die Regierung(szeit) Ludwigs XIV., welcher seinerseits vor just 300 Jahren, am 1. September 1715, die Augen schloss.
Dieses letztgenannte Ereignis nimmt Thierry Sarmant zum Ausgangspunkt seiner breit angelegten Untersuchung, welche zunächst nichts anderes denn die Biografie eines einzelnen Jahres vorstellen möchte - dies, wie der Untertitel es anzeigt, mit Zuschnitt auf Frankreich und die restliche Welt. Sarmant, derzeit Direktor des Pariser Stadtmuseums Carnavalet, muss einem einschlägig interessierten Publikum nicht näher vorgestellt werden. Die lange Reihe seiner hochkarätigen Veröffentlichungen, in den letzten Jahren vornehmlich zu Themata des Grand Siècle [6], weisen ihn hierfür längst als Spezialisten aus. Der vorliegende Band aber unterscheidet sich von seinen vorausgehenden Publikationen deutlich - dies weniger in Hinsicht auf Qualität und Seriosität, sondern vor allem auf Konzeption und inhaltliche Breite. Gestützt auf eine erstklassige Dokumentation, also einschlägige Quellendrucke und eine äußerst umfassende Literaturbasis, gelingt es ihm, dieses für Frankreich und die Welt in unterschiedlichem Maße als Einschnitt zu sehende Jahr in einen großen Kontext von Monarchie-, Politik-, Militär-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte zu stellen. Der dabei gespannte geografische Bogen umfasst neben dem zentral beleuchteten französischen Mutterland ganz Europa, Nordamerika, Asien und das sich als internationale Größe etablierende russische (ab 1721: Kaiser-)Reich.
Der hier zu Verfügung stehende Raum sowie der Charakter des Rezensionsgenres verbieten es, alle aufgeworfenen Fragen, erhaltenen Einblicke und getroffenen Analysen im Einzelnen darzulegen. Beschränken wir uns darauf festzuhalten, dass Sarmant der große Wurf in weitem Umfang brillant gelingt. Diese allgemeine Feststellung soll keineswegs einzelne Nachfragen zu spezifischen angesprochenen Sachverhalten unter den Tisch kehren, doch muss dabei auch der Grenzen des einem Buche Möglichen gedacht werden. Sicher hätte man etwa erwähnen können und vielleicht auch sollen, dass Peter der Große in Frankreich nicht nur Paris, sondern 1717 auch Reims und die dort verwahrte Heilige Ampulle besuchte (was für die Neuausgestaltung von russischer Kaiseridee und -zeremoniell von erheblicher Folgewirkung sein sollte). Doch dafür erhält man in einem Band eine schlüssige und stimmige Darlegung der politisch-diplomatischen wie staatlich-dynastischen Verhältnisse von Skandinavien über Persien und Indien bis nach China. Dass hierbei nicht alle Details angesprochen werden konnten ist offensichtlich, ja banale Tatsache. Könnte so etwa zur sich ausprägenden Régence-Zeit in Frankreich sicherlich noch mehr gesagt werden, so erfährt man hingegen Wesentliches über die Europawahrnehmung der Zeit etwa am chinesischen Kaiserhof.
Ausblicke, Urteile und Einordnungen bleiben sinnvoller Weise nicht an dem einen, der Veröffentlichung zugrundeliegenden Jahr 1715 haften, sondern erweitern sich bis weit in die 1720er-Jahre hinein. Im Gesamtresümee ist daher treffender wohl von einem Panorama der historischen Welt zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu sprechen, denn von einer (einzelnen) Jahresanalyse. Beide Ansätze sind in der Geschichtswissenschaft nicht unbekannt: hatte etwa Frank McLynn in überzeugender Weise den Zugang der Jahresbilanz vorgeführt [7], so bleibt die für die Sicht des Zeiten- und Jahrhundertwechsels magistrale und exemplarische Studie von Michel Devèze [8] weiterhin leider unerreicht.
Diese Vergleich(smaßstäb)e aber sollen der Studie Sarmants nichts von ihren unzweifelhaften Meriten nehmen, an denen die angenehme Sprache, der gut lesbare Stil und die immer nachvollziehbare Argumentation einen nicht geringen Anteil haben. Wer immer sich für globale Geschichte des 18. Jahrhunderts interessiert, findet hier einen im doppelten Sinne empfehlenswerten Einstieg.
Anmerkungen:
[1] Klaus-Jürgen Bremm: Die Schlacht. Waterloo 1815, Darmstadt 2015; Brendan Simms: The Longest Afternoon. The 400 Men Who Decided the Battle of Waterloo, London 2014; Johannes Willms: Waterloo. Napoleons letzte Schlacht, München 2015.
[2] Erik Larson: Dead Wake. The Last Crossing of the Lusitania, London 2015; Greg King / Penny Wilson: Lusitania. Triumph, Tragedy, and the End of the Edwardian Age, New York 2015.
[3] Michael Jones: 24 Hours at Agincourt, London 2015; W. B. Bartlett: Agincourt. Henry V, the Man at Arms & the Archer, Stroud 2015; bis hin zu: Peter Hoskins / Anne Curry: Agincourt 1415. A Tourist's Guide to the Campaign, Barnsley 2014.
[4] Vgl. Thomas Maissen: 1315, 1415, 1515 und 1815 - vier Schweizer Jahrestage. Fakten und Fiktionen, Mythen und Lektionen, in: NZZ vom 4. Januar 2015 (http://www.nzz.ch/feuilleton/fakten-und-fiktionen-mythen-und-lektionen-1.18453743) (03.10.2015).
[5] Claire Breay / Julian Harrison (Hgg.): Magna Carta. Law, Liberty, Legacy, London 2015 (Katalog der großen Ausstellung in der British Library); Nicholas Vincent: Magna Carta. The Foundation of Freedom, 1215-2015, London 2015.
[6] Thierry Sarmant / Nicole Salat: Politique, guerre et fortification au Grand Siècle. Lettres de Louvois à Louis XIV, Paris 2007; Thierry Sarmant / Mathieu Stoll: Régner et gouverner. Louis XIV et ses ministres, Paris 2010; Thierry Sarmant: Le Grand siècle en mémoires, Paris 2011; ders.: Louis XIV - l'homme et le Roi, Paris 2012.
[7] Frank McLynn: 1759 - the Year Britain Became Master of the World, New York 2004.
[8] Michel Devèze: L'Europe et le monde à la fin du XVIIIe siècle, Paris 1970.
Josef Johannes Schmid