Klaus Oschema: Bilder von Europa im Mittelalter (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 43), Ostfildern: Thorbecke 2013, 678 S., 43 Abb., ISBN 978-3-7995-4362-0, EUR 85,00
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"Bilder von Europa im Mittelalter" waren der Gegenstand der Heidelberger Habilitationsschrift von Klaus Oschema (2011), die nun in Buchform vorliegt. Es handelt sich dabei um ein sehr aktuelles und mitunter unter politisch-kulturellen Gesichtspunkten stark emotional diskutiertes Thema. Wie der Autor ausdrücklich betont, verfolgt seine Studie deshalb das Ziel, "eine neue, kritische Debatte über das Europa-Thema im engeren Sinne, aber auch um die methodischen Fallstricke der engen Verbindung zwischen historischer Analyse und der Lebenswelt der Historikerinnen und Historiker zu befördern" (Vorwort, 5). Er stützt sich auf einen begriffsgeschichtlichen Ansatz und fordert eine konsequente Historisierung. Dies bedeute, dass sich "lediglich Verwendungsweisen, diskursive Praktiken und Sinninvestitionen" (17) aufzeigen ließen. In ihrer Gesamtheit hätten diese Elemente zur Ausbildung zeitspezifischer Ordnungskonfigurationen beigetragen. Untersuchungsgegenstand sind daher Stellung und Funktion des Europa-Begriffs für die Konstruktion mittelalterlicher Weltbilder. Das Konzept des Bildes hat dabei eine doppelte Dimension: als mentale Repräsentation der Ordnungsmuster und als konkretes Bild. Beide Aspekte werden in methodischer Hinsicht im Sinne des französischen "imaginaire" verbunden (17).
Auf ein Vorwort folgen siebzehn teilweise chronologisch und teilweise thematisch ausgerichtete Kapitel. Am Anfang steht die Frage "Wozu Europa im Mittelalter?" (I). Das zweite Kapitel knüpft daran an. Es beschäftigt sich unter der Überschrift "Was ist Europa?" aus mediävistischer Perspektive mit der Forschungsgeschichte. Der Überblick beginnt mit dem 19. Jahrhundert. Er unterstreicht besonders markante Einschnitte und historische Ereignisse, wie den Ersten und Zweiten Weltkrieg oder den Mauerfall 1989/90, die zu historiographischen Brüchen und Neuorientierungen führten. Besonders hervorgehoben werden einige grundlegende Arbeiten zum Europa-Begriff im Mittelalter, die die Forschungsentwicklung für Jahrzehnte nachhaltig prägten (z.B. von Heinz Gollwitzer, Jürgen Fischer, Denys Hay, Carlo Curcio). Nach Oschema blieben das methodische Instrumentarium und die berücksichtigte Quellengrundlage weitgehend konstant. Dennoch kam es zu radikalen Veränderungen, die er mit Hilfe eines Wechsels des Beschreibungsparadigmas und einer gewandelten politisch-sozialen Umwelt erklärt. Im Ergebnis habe sich in der strittigen und immer wieder polemisch diskutierten Frage der mittelalterlichen Grenzen Europas mittlerweile der Konsens etabliert, die Gebiete der slawischen Nationen und Byzanz ganz selbstverständlich mit einzubeziehen (78).
Die Kapitel III bis VI folgen weitgehend einem chronologischen Aufbau. Es geht zunächst um den antiken Mythos vom Raub der Europa, seine unterschiedlichen Ausprägungen und die damaligen Vorstellungen von den Grenzen Europas (III). Anschließend stehen der Übergang zur frühchristlichen Zeit (IV) und der Weg ins Mittelalter (V) im Vordergrund. In dieser Epoche verweisen zeitgenössische Autoren auf den mythischen König Europs als zweite namensgebende Figur des Kontinents. Bereits in früher Zeit finden sich vereinzelt Hinweise auf eine auch als "Nostrifizierung" beschriebene Selbstverortung christlicher Autoren in Europa, eine Tendenz, die sich in den folgenden Jahrhunderten verstärkt. Ein weiteres in die Zukunft weisendes Motiv entwickelt sich ebenfalls: die Aufteilung der Welt unter die Söhne Noahs, Sem, Ham und Japhet. Europa wird meistens Japhet zugeordnet. Traditionell verwies die Forschung immer wieder auf die besondere Bedeutung der Karolingerzeit (VI). Oschema relativiert hier einige der bisherigen Ansichten und hebt besonders die Bedeutung des verklärenden Rückblicks auf diese Zeit hervor.
Ab dem siebten Kapitel zum Weg in ein neues Jahrtausend ändert sich die Präsentation. Statt eines chronologischen Grundrasters geht es nun um neue Einsatzfelder des Europa-Begriffs wie das der Bibelexegese gewidmete Schrifttum des 11. und 12. Jahrhunderts (VIII), den Begriffsgebrauch des Papsttums (mit einem wichtigen Einschnitt um 1100, Kapitel IX), im späten Mittelalter verwendete Topoi (X), geographische Betrachtungsweisen, Identitätsstiftung, Kreuzzüge und die Verteidigung gegen äußere Bedrohungen sowie deren mentale Folgen (Mongoleneinfall, "Türkenkriege", XI). Auch in diesem Kontext spielte jedoch die Bezugnahme auf Europa in der Regel eine wesentlich geringere Rolle als der Verweis auf die christianitas. Nach einer Diskussion der Hierarchisierung der Kontinente und der Idee von Europa als "bestem Teil der Welt" (XII) werden unter anderem folgende Bereiche angesprochen: die Epoche der Konzilien mit ihren Debatten um die Nationeneinteilung (XIII), Europa in Prophetien und der Astrologie (XIV) und Nostrifizierung und Identifikation, sowie Wortbildungsvorgänge (XV). Der vorletzte Abschnitt widmet sich in Form eines Exkurses der Frage der "echten" Bilder und Karten, der Allegorien und der Ikonographie. Am Ende steht eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. Ergänzend kommen ein Tafelteil mit Abbildungen und Karten, eine sehr umfangreiche, informative mehr als hundertseitige Bibliographie und zwei Register hinzu.
Im Ergebnis kommt Oschema zu dem Schluss, entgegen der traditionellen Ansicht könne Europa für das lateinische Mittelalter nicht als seltenes Wort bezeichnet werden. Es besitze jedoch keine klare Ausprägung als politischer Begriff. Die These von einer langen Tiefphase des Europa-Begriffs zwischen Karolingerzeit und einer weiteren Phase intensiven Gebrauchs zur Zeit der Türkenkriege sei durch seine Arbeit widerlegt. Stattdessen spricht er von einer "feiner ausdifferenzierten Entwicklung, die im 9. und 10. Jahrhundert, im 13. Jahrhundert und erneut im 15. Jahrhundert markante Schübe verzeichnen kann" (513).
Insgesamt gesehen fasst diese Selbstcharakterisierung der Ergebnisse den wissenschaftlichen Ertrag der Publikation treffend zusammen. Es handelt sich vor allem um eine Nuancierung, Historisierung und Erweiterung des bisherigen Forschungsstandes. Dabei werden die Kenntnisse über die chronologische Entwicklung erheblich verfeinert und - im Sinne der eingangs erwähnten Zielsetzung - die Quellen- und Materialgrundlage ganz beachtlich ausgeweitet. Besonders interessant sind die Ausführungen zur Wortbildung und die Einbeziehung bisher weniger berücksichtigter prophetisch-astrologischer Texte. Das gewählte Gliederungsschema mit seiner Kombination von chronologischen und thematischen Teilen ermöglicht einen guten Überblick über Entwicklungsphasen und -schübe, führt aber zwangsläufig auch zu einigen Wiederholungen. Zu den wichtigsten Aspekten des sehr lesenswerten Buches gehört das konsequente Hinterfragen der Wechselwirkung von jeweiligen (zeit)geschichtlichen Ereignissen, politischen Bedürfnissen und der Standortgebundenheit des Historikers. Dies galt bereits für mittelalterliche Autoren, Geschichtsschreiber und Theologen, wie beispielsweise die Zunahme des Rückgriffs auf Europa in Bedrohungssituationen und im Zuge der Kreuzzugsbewegung verdeutlicht. Alles in allem handelt es sich um einen sehr erfreulichen Beitrag zur wissenschaftlichen Europa-Debatte, der eine Reihe wichtiger weiterführender Anstöße zu ihrer Fortsetzung gibt.
Gisela Naegle