Lieselotte Bhatia / Stephan Stracke: In letzter Minute. Nationalsozialistische Endphaseverbrechen im Bergischen Land (= Bildungsmaterial zur Wuppertaler Polizei- und Widerstandsgeschichte; Bd. 1), Wuppertal: De Noantri 2015, 321 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-943643-03-9, EUR 18,00
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Endphaseverbrechen erfolgten aufgrund der Auflösung der Infrastruktur und insbesondere der Verbindungen nach Berlin infolge von Flächenbombardements deutscher Städte und der von Ost und West in das Territorium des Deutschen Reiches eindringenden alliierten Truppen. Seit November 1944 wurden die Kompetenzen des Reichssicherheitshauptamtes dezentralisiert; alle Staatspolizeileitstellen wurden mit der Sicherheitspolizei und dem Sicherheitsdienst der SS verknüpft. Im Regierungsbezirk Düsseldorf erfolgte dies im Februar 1945, in den nachgeordneten Dienststellen bis Ende März, bevor der Ruhrkessel geschlossen war. Die drei Beiträge des Bandes konzentrieren sich auf zwei Massaker mit zusammen über 100 Toten. Nur in der Zeittafel werden neben der Reorganisation der Sicherheitsbehörden die den Autoren bekannten 21 regionalen Endphaseverbrechen dokumentiert.
Lieselotte Bhatias Beitrag über den "Burgholz-Case", ein Massaker an 30 Zwangsarbeitern Ende Februar oder Anfang März 1945, resultiert aus einem Aktenfund im Nachlass ihres Vaters, der als Kriminalpolizist daran beteiligt war. Sie stellt dar, wie sie sich als Laiin beharrlich in die Materie einarbeitete, den Tatort in Wuppertal-Cronenberg zu identifizieren versuchte, die Personalakte ihres Vaters vergeblich, weil vermeintlich vernichtet, anforderte, sie aber später überraschend erhielt. Den Schluss des Beitrags bildet der wörtliche Abdruck eines Briefes des "Vereins zur Erforschung der sozialen Bewegungen in Wuppertal e.V." an den Oberstaatsanwalt bei der NRW-Zentralstelle für die Bearbeitung nationalsozialistischer Verbrechen, in dem die gewonnenen Erkenntnisse aufgeführt und Hinweise auf bisher nicht eingesehene Aktenbestände gegeben werden. Die letzten Informationen betreffen Recherchen von Beamten des Landeskriminalamts in den angegebenen Akten. Ob sie zur Eröffnung eines Strafverfahrens führen, war bei Redaktionsschluss ungewiss. Ein Beispiel für die potenziell juristische Dimension historischer Recherche.
Zweidrittel des Buches umfasst der Beitrag von Stephan Stracke über die Morde in der Wenzelnbergschlucht, die westlich von Solingen abgeschirmt auf Langenfelder Gebiet liegt. Es handelt sich um die Vorarbeit einer historischen und sozialgeschichtlichen Studie über das Zuchthaus Remscheid-Lüttringhausen, wo die meisten Ermordeten inhaftiert waren; in der künftigen Studie sollen die Schwerpunkte auf den regionalen Netzwerken der Verfolger und auf der regionalen Widerstandsgeschichte liegen. Obwohl es sich mit 71 Ermordeten um eines der größten Endphaseverbrechen handelt, gab es noch keine wissenschaftliche Darstellung. Strackes Absicht ist, das bisherige Narrativ von dem mutigen Retter, das der Lüttringhauser Zuchthausdirektor Karl Engelhardt selbst und die von ihm geretteten politischen Häftlinge prägten, kritisch zu hinterfragen. Stracke untersucht die Vorgeschichte des Verbrechens, wobei der Autor zahlreiche Unklarheiten und Widersprüche aufdeckt, etwa bei der Zahl der Todeskandidaten beziehungsweise der Geretteten. Da Engelhardt sich die Auswahl vorbehielt, fragt er explizit nach einem Deal mit einflussreichen politischen Häftlingen, wobei lokale Netzwerke eine Rolle gespielt haben könnten, denn unter den Erschossenen war kein Kommunist aus dem bergischen Städtedreieck Wuppertal, Solingen oder Remscheid.
Ausführlich setzt Stracke sich auf der Basis der Personalakte mit dem Anstaltsleiter Engelhardt auseinander, der in den 1950er-Jahren wegen schwarzer Kassen und damit verbundener Delikte verurteilt wurde und sein Amt verlor. Er weist auf häufige Konflikte mit den nationalsozialistischen Staats- und Parteiorganen hin, ohne zu bedenken, dass gerade seine Konfliktbereitschaft eine wesentliche Voraussetzung für die Rettungstat vor Kriegsende gewesen sein könnte. Beachtlich ist, dass Engelhardt schon vor der Endphase des Krieges Häftlinge durch Unterstellung unter das Wehrbereichskommando oder durch Beschäftigung bei Rüstungsfirmen dem Zugriff der Gestapo, etwa bei Inschutzhaftnahme nach Haftverbüßung, entzog. Unter den geretteten politischen Häftlingen, die sich in der Nachkriegszeit für Engelhardt verbürgten, waren hauptsächlich Kommunisten sowie ein Sozialdemokrat, ein Anarchosyndikalist und ein Kaplan. Hier setzt Stracke sich auch mit Engelhardts wertendem Sprachgebrauch auseinander, der zwischen "menschlich wertvollen" (156) Antifaschisten und "egoistische[n] Asoziale[n]" (104) und Kriminellen unterschied, eine Sicht, die die politischen Gefangenen teilten.
Stracke hebt die ausbleibende Strafverfolgung hervor, die nicht nur durch Selbstmorde einiger Haupttäter, sondern möglicherweise auch durch Engelhardts günstige Angaben begründet war. Zurecht fragt er, wieso kein Täter für das Massaker am Wenzelnberg verurteilt wurde. Er schließt mit einem Kapitel über Gedenken und Erinnerungskulturen ab, dessen erweiterungsbedürftige Quellenbasis ein Pressespiegel ungenannter Herkunft, interne Unterlagen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sowie Gespräche mit Aktivisten dieser Organisation sind. Die Gedenkfeiern anlässlich der Jahrestage des Massakers veranstaltete von 1956 bis 1970 ein Kuratorium aus fünf Kommunen, drei Bezirken des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Danach fanden getrennte Feiern der Städte und der Verfolgtenorganisation statt, bis seit 1990 wieder gemeinsame Veranstaltungen durchgeführt wurden. Während sie anfangs nur der politischen Opfer gedachten, fassten sie später alle Ermordeten als Antifaschisten auf. Erst Schüler und Studenten warfen seit den 1980ern wieder einen differenzierten Blick auf die Opfer. Stracke wendet sich gegen die "Mythologisierung" (203) der Opfer und erklärt die Frage nach dem Umgang mit den Tätern für wichtiger. Anschließend sind die Täter- und Opferbiografien aufgelistet, teilweise nur Kurzhinweise von ein bis vier Zeilen. Peter Fey beschreibt als Enkel eines Mannes, der ausländische Zeitungen über die Verhältnisse in deutschen Konzentrationslagern informierte, das Leben seines am Wenzelnberg ermordeten Großvaters, soweit er es aus den Akten rekonstruieren konnte.
Im Anschluss an die drei Beiträge werden Dokumente, teils auszugsweise, abgedruckt, auf die einige vorsichtig als "Diskussionsgrundlage" (7) bezeichnete Arbeitsaufträge folgen. Weiterführende Literatur wird nur spärlich genannt.
Der Untertitel ist ungenau. Die Zeittafel nennt 12 Verbrechen in Wuppertal, fünf in Solingen, je eines in Langenfeld, Ratingen und Sprockhövel sowie eines zwischen Remscheid und Wuppertal. Somit bezieht das Buch sich nur auf Niederberg, während die Kreise Oberberg, Rhein-Berg und Rhein-Sieg ausgespart bleiben.
Die Darstellung bringt hinsichtlich beider Endphaseverbrechen neue Erkenntnisse ans Licht. Sie bestätigt, dass es keinen Befehlsnotstand gab. Mit dem Brief an die Justiz löste der Verein möglicherweise ein neues Strafverfahren aus. Wichtig ist darüber hinaus die Forderung, die im Keller des Polizeigefängnisses Wuppertal liegenden Altakten an das Landesarchiv in Duisburg abzugeben und somit der Forschung zuzuführen.
Horst Sassin