Rezension über:

Moritz Isenmann (Hg.): Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte; Bd. 228), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 288 S., ISBN 978-3-515-10857-7, EUR 52,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Justus Nipperdey
Historisches Institut, Universität des Saarlandes, Saarbrücken
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Justus Nipperdey: Rezension von: Moritz Isenmann (Hg.): Merkantilismus. Wiederaufnahme einer Debatte, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 1 [15.01.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/01/26156.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Moritz Isenmann (Hg.): Merkantilismus

Textgröße: A A A

"Wiederaufnahme einer Debatte" lautet der Untertitel des ansonsten mit "Merkantilismus" schlicht und zugleich mutig betitelten Sammelbandes. Der Titel insinuiert damit die Notwendigkeit, jene Debatte um das Wesen des Merkantilismus sowie die Haltbarkeit des Begriffes weiterzuführen, die mit Eli Heckschers gleichnamigem Buch einsetzte und nach Jahrzehnten eher aus Erschöpfung denn Konsensfindung endete. Nun ist der vorliegende Band keineswegs der erste, der sich dieser Frage erneut annimmt. Insbesondere in der englischsprachigen Forschung hat der Boom der Erforschung des ökonomischen Denkens und der frühneuzeitlichen Weltwirtschaft auch zur Auseinandersetzung mit dem Begriff Merkantilismus geführt. [1] Im Gegensatz zum Großteil dieser Forschungen zeichnet sich Moritz Isenmanns Band, der auf eine Tagung am DHI Paris zurückgeht, durch eine ausgesprochen kontinentale Sichtweise aus und stellt damit ein notwendiges Korrektiv zur jüngeren anglozentrischen Merkantilismusliteratur dar. Von den zwölf Aufsätzen befassen sich vier mit rein deutschen und drei mit rein französischen Themen, wogegen England nur zweimal in vergleichenden Aufsätzen behandelt wird.

In seiner Einleitung verzichtet der Herausgeber bewusst auf eine Thesenbildung, an der sich die Autoren abarbeiten könnten; die starke These bewahrt er sich für seinen eigenen Beitrag auf. Folgerichtig gehen die Autoren von unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs Merkantilismus aus, die sie allerdings nicht immer explizit machen. Das ist insofern schade, als die Fragen, die sie stellen (Was ist Merkantilismus? Funktionierte er? War merkantilistisches Denken verantwortlich für dies oder jenes? War XY ein Merkantilist?) ebenso wie die Untersuchungsmethoden und Antworten unweigerlich von ihrem Ausgangspunkt abhängen. Zudem behandeln die Autoren unterschiedliche nationale Fälle und Zeiträume vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert. Bei dieser lobenswerten und interessanten Diversität überrascht es nicht, dass am Ende keine Einigung über die Bedeutung und weitere Verwendbarkeit des Begriffs erreicht wird. Die Spannweite reicht von "still [...] a useful concept" (38) und "nach wie vor sinnvoll" (80) über "convenient", aber ersetzbar durch "a term of broader application" (195) bis zu "hinfällig" (167), "Mythos" (219) und ohne heuristischen Wert, da der Begriff "contribue au total à brouiller plus qu'a éclairer les questions historiques en jeu" (288).

Zu denen, die am Merkantilismus als Forschungsbegriff festhalten möchten, gehören Lars Magnusson und Thomas Simon, wenn auch mit unterschiedlichen Argumenten. Magnusson bietet in seinem Aufsatz einen instruktiven Forschungsüberblick seit der Begriffsprägung durch Adam Smith. Der Begriff sei weiterhin nützlich, wenn man Merkantilismus verstehe als "a broad stream of thought manifested in literature and practice set in relation to the rise of early modern states and their application of economic means in order to pursue the goals of power and plenty" (36). Diese recht allgemeine Definition, die den deutschen Kameralismus eindeutig einbezieht, überrascht insofern, als Magnusson vor 20 Jahren eine ganz andere Definition vorgelegt hatte: "mercantilism was a literature, a discourse, on trade and economics which appeared mainly in one specific national context, the English". [2] Auf jene Definition bezieht sich wiederum Simon, der Merkantilismus als einen auf Austausch und Umverteilung orientierten, vornehmlich englischen Handelsdiskurs des 17. Jahrhunderts versteht, der strikt vom produktionsorientierten deutschen Kameralismus des 18. Jahrhunderts zu trennen sei. Jean-Yves Grenier hält in seinem sehr instruktiven Beitrag über die radikale Trennung zwischen Außen- und Binnenwirtschaft in merkantilistischen Traktaten und die jeweiligen ideengeschichtliche Wurzeln, ebenfalls am Begriff Merkantilismus fest.

Den fundamentalsten Widerspruch gegenüber diesen Autoren formuliert Guillaume Garner, der dem Begriff Nutzen und Existenzberechtigung abspricht. Die vermeintlichen Eindeutigkeiten des Merkantilismus gaukelten den Historikern die Existenz von homogenen Entitäten vor ('der' Staat, 'die' Kaufleute, 'die' Manufakturunternehmer, 'die' Zünfte), die nie existiert hätten. Auf einer anderen Ebene rückt der Herausgeber Moritz Isenmann dem Merkantilismus zu Leibe, indem er zu zeigen versucht, dass Jean-Baptiste Colbert höchstpersönlich kein Merkantilist gewesen sei. Colbert habe keineswegs immer dem Handelskrieg das Wort geredet oder den Import unterbinden wollen. Stattdessen habe er an eine natürliche Ordnung des Handels geglaubt, in der jedes Land proportional partizipieren solle. In der Praxis habe das zu einer flexiblen und pragmatischen Politik geführt, die nichts mit merkantilistischer Orthodoxie zu tun gehabt habe. Der Beitrag wird durch zwei Fallstudien flankiert. Während Junko Thérèse Takeda am Beispiel Marseilles das Bild des pragmatischen Colbert stützt, zeichnet Jochen Hoock aus Sicht der Kaufleute Rouens ein deutlich kritischeres Bild der Colbertschen Zollpolitik.

Mit der Plausibilität und Durchsetzbarkeit merkantilistischer Annahmen beschäftigen sich schließlich Philipp Robinson Rössner und Burkhard Nolte. Mit Blick auf die dauerhafte Unterversorgung der frühneuzeitlichen Ökonomien mit Edelmetallmünzen zeigt Rössner, wie rational und notwendig der Versuch war, durch eine positive Handelsbilanz die heimische Geldmenge zu vermehren oder zumindest nicht schrumpfen zu lassen. Nolte benutzt dagegen das Beispiel der preußischen Zollpolitik des 18. Jahrhunderts, um nachzuweisen, dass dieser weder eine stringente Durchführung noch irgendein wirtschaftspolitischer Erfolg zugeschrieben werden kann.

Angesichts der Vielfalt der Themen, Ansätze, expliziten und impliziten Definitionen und nicht zuletzt der sich gegenseitig widersprechenden Antworten ist man geneigt, mit Brecht zu seufzen: Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen. Doch hieße das nicht nur, die titelgebende Programmatik der "Wiederaufnahme" der Debatte nicht ernst zu nehmen, sondern auch die anregenden und empirisch fundierten Beiträge gering zu achten. Stoff bietet dieser Band auf jeden Fall genug, damit sich jeder zum Wesen des Merkantilismus seine eigene Meinung bilden kann. Schließlich heißt es nicht umsonst bei Brecht weiter: Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss!


Anmerkung:

[1] Philip Stern / Carl Wennerlind (Hgg.): Mercantilism Reimagined. Political Economic in Early Modern Britain and its Empire, Cambridge 2013.

[2] Lars Magnusson: Mercantilism. The Shaping of an Economic Language, London 1994, VII.

Justus Nipperdey