Jürgen Wilke (Hg.): Die frühesten Schriften für und wider die Zeitung. Christophorus Besold (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676), Tobias Peucer (1690), Johann Ludwig Hartmann (1679), Daniel Hartnack (1688). Mit einer Einführung von Jürgen Wilke (= ex libris kommunikation. Klassische Texte über Medien und Kommunikation; Bd. 17), Baden-Baden: NOMOS 2015, 208 S., ISBN 978-3-8487-2141-2, EUR 39,00
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Die vom emeritierten Mainzer Publizistikwissenschaftler Jürgen Wilke besorgte Edition zur "Zeitungstheorie" des 17. Jahrhunderts umfasst sechs unterschiedliche Schriften: Einen zwei Seiten kurzen, lexikonartigen Eintrag des Juristen Besold von 1629 in der veränderten Neuauflage von 1679 (45-46), zwei kürzere, 1676 erschienene Traktate von Fritsch (49-60) und Weise (63-104) sowie die - verglichen mit heute sehr kurze, aber erste - zeitungshistorische Dissertation von Peucer (107-128). Die deutschen Übersetzungen dieser vier lateinischen Texte sind der 1944 von Karl Kurth besorgten (und nur noch schwer aufzufindenden) zweisprachigen Ausgabe "Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung" entnommen, aus der auch das Glossar stammt. [1] Hinzugefügt hat Wilke zeitungshistorisch relevante Auszüge aus längeren deutschsprachigen Abhandlungen von Hartmann über Kriegsdiskurse (139-158) und von Hartnack über Geschichte (163-192). Damit fehlen, wie Wilke einleitend darlegt, von den klassischen Texten des 17. Jahrhunderts nur die erste Reflexion von Gregor Wintermonat (1609) (10) und das umfangreichste Werk zur Zeitungskunde von Kaspar Stieler (1695) (18). Die in der Edition enthaltenen Autoren sind insofern Teil einer Diskussion, als die späteren auf die früheren verweisen: Fritsch auf Besold, Peucer auf Besold, Fritsch und Weise, Hartmann auf Fritsch und Hartnack auf Besold, Fritsch und Weise (25-26). Den Texten sind Autorenporträts und / oder Titelseiten der Werke als Abbildungen beigegeben.
Das so konstituierte klassische Corpus der Zeitungstheorie birgt, worauf Wilke in seiner klar strukturierten Einleitung (9-42) aufmerksam macht, auch einige Tücken. Erstens staunt man immer noch über den Befund, wonach offensichtlich eine eigentliche Diskussion über das neue Medium erst rund 70 Jahre nach Auftreten der ersten gedruckten periodischen Zeitung, 1605 in Straßburg, erfolgte. Die Tatsache, dass die Dissertation Peucers jüngst auch ins Englische und Portugiesische übertragen wurde, scheinen auf ein Fehlen entsprechender Texte außerhalb des Reiches (16-17) zu verweisen. Zweitens erhält die Debatte eine Unschärfe dadurch, dass die Autoren des 17. Jahrhunderts nicht recht klar machen worüber sie sprechen: Meinen sie mit "Neue Zeitungen" oder "Zeitungen" das, was wir "Nachricht, Neuigkeit" oder das, was wir "Zeitung" nennen? Unterscheiden sie zwischen den gelegentlich und ereignisabhängig gedruckten, oft auf Sensationen orientierten und nicht selten illustrierten "Neuen Zeitungen" und den viel nüchterneren und so gut wie nie illustrierten, dafür aber, und darauf kommt es an, periodisch publizierten "Zeitungen"? Die Autoren bleiben, wie überhaupt der Sprachgebrauch des 17. Jahrhunderts schwankend - auch in der Abgrenzung zu den "Zeitschriften" (25).
Während die erste Reflexion von Wintermonat 1609 den Nutzen der Zeitungen für die Regierenden wie für die Regierten unterstrich, äußerten sich die Autoren der 1670er-Jahre zurückhaltender. Sie warnen davor, zu sehr der Neugier zu frönen und der "Zeitungs-Sucht" zu verfallen; sie prangern die oft falschen, unwahren oder missverständlichen und daher schädlichen Nachrichteninhalte an; und sie rechtfertigen obrigkeitliche Zensurmaßnahmen (etwa Fritsch 56). Dennoch konzedieren sie auch die Nützlichkeit dieser Form der Nachrichtenübermittlung, wenn man davon sinnvollen und mäßigen Gebrauch mache. Es zeigt sich die moralische Komponente der Reflexionen, wenn beim Interesse für Neuigkeiten zwischen der - verwerflichen - privaten Neugier und der - notwendigen - professionellen Informationspflicht etwa für Regierungspersonen unterschieden wird (Fritsch 53-54; Hartmann 154; Hartnack 167-168). Die zeitgenössische Diskussion über das schnellste und zuverlässigste Informationsmedium bekundet offensichtlich Mühe mit der öffentlichen Zugänglichkeit zu den Nachrichten, die langfristig das Arkanprinzip frühneuzeitlicher oder "absolutistischer" Politik aushöhlte.
Interessant sind einige Punkte der Diskussion. Nur Weise benennt klar, dass er mit "Zeitungen" jene von Postmeistern gesammelten und gedruckten Nachrichten meint. Sonderbar mutet für heutige Leser sicherlich an, dass keine einzige Zeitung mit ihrem Titel erwähnt wird; lediglich Zeitungen aus bestimmten Städten werden empfohlen: jene aus Frankfurt und Leipzig bei Peucer (128), die deutschen aus Leipzig, die eleganten französischen aus Paris sowie die gelehrten lateinischen (!) aus Köln bei Weise (67-68). Explizit und überaus oft zitiert werden hingegen die Bibel, antike griechische (wie Aristoteles, Demosthenes, Herodot, Plutarch, Polybios) und lateinische Autoren (wie Caesar, Cicero usw.) sowie mittelalterliche oder zeitgenössische Theologen (Seuse, Baxter) oder Juristen wie Grotius (25) oder italienische Historiker (etwa Guicciardinus, Jovius / Giovio) (55), was nochmals auf das Gewicht der moralischen Wertung des Phänomens im frühen Zeitungsdiskurs verweist.
Das Hauptproblem des 17. Jahrhunderts im Umgang mit den Zeitungen scheint die Glaubwürdigkeit der Nachrichten gewesen zu sein. Unter dem Stichwort "Gerüchte" wird gewarnt vor falschen, unbestätigten, aufgebauschten, irreführenden und manipulierenden Nachrichten (Besold 43-44; Fritsch 55-60; Weise 65; Peucer 115-116, Hartnack 172-182). Es fehlte im 17. Jahrhundert an der kommunikativen Infrastruktur, die eine sofortige Überprüfung der Richtigkeit von Nachrichten erlaubt hätte. Daher kam den Zeitungsschreibern und auch den Zeitungslesern eine größere Verantwortung bei der Beurteilung von Neuigkeiten zu.
Einleitend erschließt Wilke kenntnisreich das Textkorpus und bietet neben Kurzbiografien der Autoren eine fundierte bibliografische Dokumentation der Forschungen zu dieser Zeitungsdebatte, der man allenfalls noch die Arbeiten von Jörg Jochen Berns hinzufügen möchte. [2] Die Debatte über Nutzen und Nachteil neuer Medien am Ende des 17. Jahrhunderts erweist sich immer wieder als überraschend aktuell.
Anmerkungen:
[1] Karl Kurth (Hg.): Die ältesten Schriften für und wider die Zeitung: die Urteile des Christophorus Besoldus (1629), Ahasver Fritsch (1676), Christian Weise (1676) und Tobias Peucer (1690) über den Gebrauch und Missbrauch der Nachrichten (= Quellenhefte zur Zeitungswissenschaft; Bd. 1), Brünn / München / Wien 1944.
[2] Jörg Jochen Berns: "Parteylichkeit" und Zeitungswesen. Eine medienpolitische Diskussion an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, in: Argument Sonderband 10 (1976), 202-233; Jörg Jochen Berns: Zeitung und Historia. Die historiographischen Konzepte der Zeitungstheoretiker des 17. Jahrhunderts, in: Daphnis 12 (1983), 87-110; Jörg Jochen Berns: Medienkonkurrenz im 17. Jahrhundert. Literarhistorische Beobachtungen zur Irritationskraft der periodischen Zeitung in der Frühphase, in: Presse und Geschichte 2. Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung, hgg. v. Elger Blühm / Hartwig Gebhardt, München u.a. 1987, 185-206.
Andreas Würgler