Yohanan Petrovsky-Shtern: The Golden Age Shtetl. A New History of Jewish Life in East Europe, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, 431 S., ISBN 978-0-691-16074-0, USD 29,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Mareike König / Oliver Schulz (Hgg.): Antisemitismus im 19. Jahrhundert aus internationaler Perspektive. Nineteenth Century Anti-Semitism in International Perspective, Göttingen: V&R unipress 2019
Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Micha Brumlik: Antisemitismus. 100 Seiten, Stuttgart: Reclam 2020
Kristine T. Utterback / Merrall Llewelyn Price (eds.): Jews in Medieval Christendom. "Slay Them Not", Leiden / Boston: Brill 2013
Anja Siegemund (Hg.): Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina und Israel. Kulturtransfers, Lebenswelten, Identitäten Beispiele aus Haifa, Berlin: Neofelis Verlag 2016
Martin Wein: History of the Jews in the Bohemian Lands, Leiden / Boston: Brill 2016
Menashe Unger / Frank Beer (Hgg.): Die Rabbis von Pschis'che und Kotzk. Spirituelle Meister des Chassidismus an der Schwelle zur Moderne. Aus dem Jiddischen von Daniel Wartenberg, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2019
Daniel Mahla: Orthodox Judaism and the Politics of Religion. From Prewar Europe to the State of Israel, Cambridge: Cambridge University Press 2020
Weit über die Hälfte aller Juden und Jüdinnen Osteuropas lebte vor dem Ersten Weltkrieg in Shtetls. Lange Zeit vernachlässigte die Geschichtsforschung jedoch diesen besonderen Religions-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialraum. Die große westwärts gerichtete Migrationsbewegung Ende des 19. Jahrhunderts führte zum unaufhaltsamen Ende dieser Siedlungsform und damit auch zum Ende einer distinkten Kultur, die fortan fast nur noch in Erinnerungen weiterlebte. Nach der Shoa entwickelte sich das Shtetl zu einem eigentlichen Mythos. Literarische Darstellungen des 19. Jahrhunderts, populäre Filme wie Fiddler on the Roof (1964) (eine Adaption von Scholem Alejchems Roman Tewje der Milchmann) und die Bilder Marc Chagalls prägten fortan die Vorstellungen des Shtetls als ein Ort der Frömmigkeit und Rechtschaffenheit, aber auch der Armseligkeit und des Schmutzes.
Mit dem wachsenden Interesse der Historiografie an der Kultur und Geschichte der jüdischen Minderheit in Zentral- und Osteuropa rückte das Shtetl wieder in das Blickfeld. Die wissenschaftlichen Arbeiten vermochten das stereotype Bild von wirtschaftlicher Prekarität und traditioneller Religiosität zwar zu differenzieren, jedoch nicht auszumerzen. Genau an diesem Punkt setzt Yohanan Petrovsky-Shtern mit seinem Werk ein, indem er vor allem die kaum beachteten frühen Jahre 1790-1840 in den Blick nimmt und nur, wenn für das weitere Verständnis unerlässlich, auf die folgenden Jahrzehnte verweist. Diese von ihm als "Goldenes Zeitalter" bezeichnete Zeitspanne setzte mit der ersten Teilung Polens (1772) ein, denn mit dem Rückgang des polnischen Einflusses taten sich sozioökonomische Möglichkeiten auf, die im Shtetl für einen wirtschaftlichen Aufschwung sorgten, und sie endete mit dem Einsetzen des russischen Imperialismus. Militarisierung, Nationalismus, Xenophobie und wirtschaftliches Konkurrenzdenken transformierten einst blühende Shtetls in verarmte und von Pogromen heimgesuchte Siedlungen. Bereits die Definition des Shtetls, ein an sich anachronistischer Begriff, ein "kulturelles Artefakt" (27), macht die zu dieser Zeit unscharfe Zugehörigkeit dieser Siedlungsform deutlich: Für die Polen war das Shtetl eine private Stadt und eine ökonomische Kategorie, für die Russen eine administrative Subdivision und für die jüdische Bevölkerung eine religiös definierte Gemeinschaft.
Petrovsky-Shtern verbindet in seiner Studie Kultur- und Sozialgeschichte mit Politikgeschichte. Die relativ kurze Zeitspanne ermöglicht eine dichte Beschreibung (thick description [1]) des Gegenstandes, was gegenüber makrohistorischen Zugriffen den Vorteil hat, dass die Lebenswirklichkeit der historischen Subjekte fassbar gemacht werden kann. Zwar bezieht Petrovsky-Shtern die Geschichte bekannter Persönlichkeiten mit ein, der Fokus liegt aber auf dem Erleben der "kleinen Leute", die in der Geschichtswissenschaft lange kaum Beachtung fanden. Im Sinne einer lebensweltlichen Geschichtsschreibung [2] bettet er das individuell Erlebte in sozial-, wirtschafts- und politikhistorische Entwicklungen ein und steht damit für ein Geschichtsverständnis, das Makro- und Mikrogeschichte zu verbinden und damit mehrschichtige Sinnbezüge zu rekonstruieren weiß.
Petrovsky-Shtern geht im ersten Teil seiner Studie den vielschichtigen und komplexen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden nach. Der aufgeklärte Despotismus Katharinas II. und Alexanders I. setzte die Rahmenbedingungen. Russische Gesandte, aber auch private Reisende zeigten sich gleichermaßen überrascht und beeindruckt von der wirtschaftlichen Kraft der Shtetls, die sie als "jüdische Unternehmungen" (38) wahrnahmen. Trotz dünner Quellenlage gelingt es Petrovsky-Shtern aber auch, die Reaktionen der jüdischen Bevölkerung auf die russischen Machthaber darzustellen: So versteht er die deutliche Ablehnung Napoleons als Loyalitätsbezeugung gegenüber der russischen Macht, was den Juden im Gegenzug Zugang zu wichtigen Ämtern im Postdienst sowie die Wahl in den Rat einiger Städte ermöglichte. Dies fand ein abruptes Ende mit dem Beginn der Herrschaft durch Nikolaus I. Antijüdische Vorurteile und Misstrauen prägten dessen Herrschaft, was letztendlich zum wirtschaftlichen Niedergang der Shtetls führte.
Sowohl der illegale wie auch der legale Handel waren ein zentrales Moment im kulturellen Kontakt. Juden waren traditionellerweise für die Versorgung der Shtetl-Bevölkerung verantwortlich. Wo legaler Handel wegen Zollbestimmungen und Einfuhrbeschränkungen nicht möglich war, wurden elaborierte Schmuggelnetzwerke über religiöse Grenzen hinweg gebildet. Gewalt, Verbrechen und Kriminalität sind Teil des Alltagslebens. Naturgemäß wird illegales und gewalttätiges Verhalten besser dokumentiert als friedliches Nebeneinander. Die polnischen und russischen Akten, die heute in Archiven in Israel, Litauen, Polen, Russland, der Ukraine und den USA bewahrt werden, zeigen, dass zur Zeit der wirtschaftlichen Blüte die Position der jüdischen Händler in der Gesellschaft derart gefestigt war, dass sie sich ähnlich gewaltbereit zeigten wie ihre christlichen Nachbarn. Erst die Pogrome veränderten die Balance der Gewalt (179).
Im zweiten Teil geht der Autor verstärkt Innerjüdischem nach, ohne jedoch den Kontext zu vernachlässigen. Der kleinteilige Blick auf das Gemeinschafts- und Familienleben gibt nicht nur Aufschluss über das Alltagsleben der Juden im Shtetl, sondern erlaubt auch, die Rolle der Frauen detaillierter als bisher zu erfassen. In den letzten Kapiteln steht die Religion im Zentrum, wobei der Verfasser sowohl auf die private Frömmigkeit und familiäre Traditionsvermittlung als auch größere Entwicklungen eingeht. Die Auseinandersetzung mit dem Buch als Träger von einerseits moderner aufgeklärter Bildung und andererseits mystischen und traditionellen Inhalten macht die Vielschichtigkeit des Lebens im Shtetl nochmals deutlich: Innerjüdische Differenzen zeigten sich im Umgang mit dem gedruckten Wort ebenso wie der kritische Blick der nichtjüdischen Umwelt auf jüdisches Leben und Tradition.
Es ist dem Autor und seiner Suche nach neuen Quellen zu verdanken, dass das Bild des Shtetls revidiert werden muss. Petrovsky-Shtern hat deutlich gemacht, dass das Shtetl weder ein romantischer Ort des Ursprünglichen und Traditionellen war, wie es in folkloristischen Vorstellungen der Fall ist, noch ein verarmtes und prekäres Leben bedeutete. Darüber hinaus zeigt sich, dass der von Petrovsky-Shtern gewählte Zugang der dichten Beschreibung und die kleinteilige Darstellung der Ergebnisse bisherige Diskurse aufzulösen vermögen und neue Erkenntnisse zulassen. Sowohl die neuerschlossenen Quellen als auch die Verbindung von Makro- und Mikrogeschichte können der Forschung wichtige Impulse für zukünftige Arbeiten geben.
Dem Autor ist es damit gelungen, eine inhaltlich fesselnde und gut lesbare, wenn auch sprachlich etwas saloppe Darstellung eines bisher kaum bekannten Aspekts der jüdischen Geschichte darzustellen. Daher ist es bedauerlich, dass die formale Ausführung des Buches hinter der Qualität der Darstellung und Ergebnisse zurückbleibt. Zumindest für die Leser aus dem deutschsprachigen Wissenschaftskontext sind die im angloamerikanischen Raum gebräuchlichen Endnoten wie auch die literarisch gehaltenen und daher wenig aussagekräftigen Kapitelüberschriften gewöhnungsbedürftig. Als großes Problem sind die fehlenden Literatur- und Quellenverzeichnisse zu nennen. Es bleibt so den Lesern überlassen, die Angaben in den Endnoten mühsam zusammenzusuchen. Ein weiteres Manko bilden die fehlenden Übersetzungen der polnischen und russischen Quellenbezeichnungen. Da die Aktenbestände auch in der Einleitung nicht genauer vorgestellt werden, bleiben sie für Leser ohne einschlägige Sprachkenntnisse vage. Vor allem für das hier vorliegende neuerschlossene Gebiet wären detaillierte und nachvollziehbare Listen in Übersetzung notwendig gewesen. So fesselnd die neuen Erkenntnisse sein mögen, durch diese Unterlassungen verliert das Werk an wissenschaftlichem Wert.
Anmerkungen:
[1] Clifford Geertz: "Thick Description". Toward an Interpretative Theory of Culture, in: ders. (ed.): The Interpretation of Cultures. Collected Essays, New York 1973, 3-30.
[2] Vgl. Heiko Haumann: Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den Jüdischen Studien. Das Basler Beispiel, in: Klaus Hödl (Hg.): Jüdische Studien. Reflexionen und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes, Innsbruck 2003, 105-122.
Stefanie Mahrer