Emmerich Tálos: Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933-1938 (= Politik und Zeitgeschichte; Bd. 8), 2. Auflage, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2013, 621 S., ISBN 978-3-643-50494-4, EUR 34,90
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Zeitgeschichtliche Themen der Jahre 1933/34 bis 1938 fanden in den letzten beiden Dezennien in der Forschung ein reges Interesse, wobei Kontroversen die wissenschaftliche Beschäftigung prägten und nach wie vor prägen. Zahlreich sind die Studien und Aufsätze, die sich aus unterschiedlicher Perspektive Aspekten dieser konfliktbeladenen, "äußerst umstrittenen Phase der österreichischen Geschichte des 20. Jahrhunderts" widmen (2). Zu diesen Arbeiten zählt auch das vorliegende Opus von Emmerich Tálos, Politikwissenschaftler und von 1983 bis zu seiner Emeritierung 2009 Professor am Institut für Staatswissenschaft an der Universität Wien. Seit den 1980er-Jahren bildete die Zeit der Dollfuß- und Schuschnigg-Regierung in seinen Forschungsaktivitäten ein immer wieder beackertes Arbeitsfeld. An deren Beginn stand ein gemeinsam mit Wolfgang Neugebauer herausgegebener, inzwischen in der 7. Auflage erschienener Sammelband zum "Austrofaschismus". [1] Weitere Aufsätze zu Detailfragen folgten.
Insofern ist die vorliegende Monographie, deren Ziel es ist, "auf Basis bisheriger Forschungsarbeiten und Quellen ein Gesamtbild des Herrschaftssystems 1933-1938" zu zeichnen (2), eine Zusammenführung der bisherigen Ergebnisse zu dem Thema bzw. eine Weiterführung früherer Forschungsarbeiten unter Verwendung neuer Literatur und Bearbeitung inzwischen zugänglich gewordener Quellenbestände. Der Fundus der verwendeten Literatur ist reichhaltig, das Spektrum der ausgewerteten Quellen vielfältig. Letztere reichen von den Ministerratsprotokollen über die Akten des Bundeskanzleramts, des Innen- und Sozialministeriums sowie der Handelskammer bis zu den (erst seit 2010 zugänglichen) Archivbeständen der 1933 gegründeten "Vaterländischen Front".
Tálos hat das breite Feld der Geschichte der Jahre 1933/34 bis 1938 in eine komplexe, in acht Abschnitte gegliederte Präsentation umgesetzt. Einem einleitenden Überblick über die politische Entwicklung in den Jahren vor dem 4. März 1933 bis zum Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im März 1938 folgt in den Kapiteln 2 und 3 die Darstellung des weltanschaulichen Selbstverständnisses und der politischen Strukturen des Herrschaftssystems sowie von "Akteuren und Stützpfeilern", zu denen Tálos die "Vaterländische Front", die Wehrverbände, die katholische Kirche und die christliche Arbeiterbewegung zählt. Die dem österreichischen Legitimismus zuzurechnenden Kräfte werden dagegen als letztlich erfolglose politische Akteure klassifiziert (262). Die beiden folgenden detailreichen Abschnitte widmen sich Fragen der politischen Gestaltung, der Anpassung und ideellen Durchdringung der Gesellschaft an Hand ausgewählter Segmente (u.a. Sozial- und Geschlechterpolitik, Schule, Sport, Medien, Kultur) sowie der Verankerung des politischen Systems in der Bevölkerung und deren Stimmungslage. Die Diagnose des Autors ergibt eine "merkbare Kluft zwischen dem Angestrebten und Erreichten" (448). Die "Selbstdarstellung durch Selbstinszenierung" (435) im Sinne einer "Österreich"-Ideologie erreichte letztlich nicht die breite Bevölkerungsmasse, weil die Ambivalenz von positiven Erwartungen und zunehmendem Unmut die Stimmungslage der Bevölkerung prägte (453).
Diese "Diskrepanz zwischen Ankündigungen und politischer Praxis" führte zunehmend zu einem Vertrauensverlust (455). Die Aktivitäten der von der Regierung initiierten politischen Monopolorganisation der "Vaterländischen Front" als Stütze eines relativ instabilen Regimes erwiesen sich als zu wenig nachhaltig, um eine "dynamische Massenbasis" zu schaffen (147). Das galt auch für das als große Freizeitorganisation angedachte "Frontwerk 'Neues Leben'", dessen Arbeitsgebiete unter anderem Film und Radio, das Bildungswesen, Reisen und Volkskultur umfassten (445). In zwei weiteren Kapiteln richtet sich der Fokus zunächst auf die "folgenreichen Außenbeziehungen und Außenbindungen" zum einen zum faschistischen Italien, zum anderen zum nationalsozialistischen Deutschland, um - daran anknüpfend - in der Folge den "Anschluss" "von innen" wie "von außen" zu thematisieren. Die Beziehungen zu den beiden Nachbarstaaten waren von den Bemühungen um die Lösung politischer und wirtschaftlicher Fragen geprägt, die, so Tálos, für den Bestand und die Absicherung des Herrschaftssystems zentral waren, sich aber am Ende als unwirksam erwiesen (491).
Im Zentrum des letzten Abschnitts - schlicht als "Abschluss" betitelt - findet sich die Begründung für die Verwendung des in der Forschung kontrovers diskutierten Begriffs "Austrofaschismus" zur Bezeichnung der Dollfuß-Schuschnigg-Ära (585 f.). Tálos rückt den Terminus in Abgrenzung zu anderen gängigen Begriffen (Diktatur, autoritäres Regime, autoritärer Staat) in die Nähe des italienischen Faschismus und des Nationalsozialismus ("deutscher Faschismus") (586).
Insgesamt liefert die Publikation neue Erkenntnisse vorrangig mit Blick auf den Stellenwert der "Vaterländischen Front" innerhalb des politischen Systems sowie dessen Unterwanderung - wie im Übrigen auch der staatlichen Stellen - durch Anhänger des Nationalsozialismus. Nicht zu übersehen ist die eine oder andere Redundanz. So findet sich etwa ein Absatz auf Seite 172f. auf Seite 429 wörtlich wieder. Ebenso erscheint ungeachtet vorhandener Schnittstellen die Etikettierung der Dollfuß-Schuschnigg-Ära mit dem Begriff "Austrofaschismus" aufgrund der Inhomogenität des politischen Systems, das sich von jenem des faschistischen Italien oder des totalitären NS-Staates doch deutlich unterschied, als fraglich. Jedenfalls ist die Studie ein Anstoß zu einer weiteren intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte des "autoritären Ständestaates".
Anmerkung:
[1] Emmerich Tálos / Wolfgang Neugebauer (Hgg.): Austrofaschismus. Politik - Ökonomie - Kultur 1933-1938, Wien u. a. 72014.
Werner Drobesch