Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München: C.H.Beck 2015, 461 S., 36 Farb-, 85 s/w-Abb., ISBN 978-3-406-68244-5, EUR 29,95
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Ein jeder Rezensent wird sich schwer tun, das Buch zu besprechen. Die Gründe liegen im Buch selber. Der Autor Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, hat ein Buch geschrieben, das erwartungsgemäß zu einem beträchtlichen Teil Pferde in der schönen Literatur zum Thema hat. Aber das Buch geht über viel, viel mehr: Es handelt auch von der Bedeutung der Pferde in der Geschichte, vor allem in der Militär- und Alltagsgeschichte. Dann ist es ein Buch zum Pferd in der Kunstgeschichte, insbesondere in der Malerei. Und es finden sich weite Passagen, die vielem anderen mehr zuzuordnen sind, u.a. der Psychoanalyse oder der Mythologie (Kentauren und Amazonen). Und nicht zuletzt ist es ein Buch über Pferde und ihre Liebhaber, die sich für Pferderassen, Rennpferde und ihre Stammbäume interessieren. Spätestens da mangelt es sogar dem geisteswissenschaftlichen Generalisten an Sachkompetenz. Der Verfasser ist Generalist und Pferdeliebhaber, und will der Leser das Buch voll genießen, so muss auch er beides sein. Reziprok dazu hängt die Wertschätzung des Buches von den Horizonten ab, welche der Leser mitbringt.
Überdies: Das Buch will weniger gelesen, sondern genossen werden. Man muss sich einlassen und muss Weile haben. Ein eiliger Leser wird es sofort beiseite legen, schon wenn er die Gliederung sieht. Denn mit einem Gutteil der Kapitelüberschriften kann er erst hinterher etwas anfangen, wenn er das Buch gelesen hat. Und irgendwo steht etwas sehr Bezeichnendes in der Nähe des Schlusses, aber es gilt für das ganze Buch: "Nichts, was nach einem Ganzen aussähe, nichts, was sich schlüssig rundete. Keine Konklusion, sondern eine lockere Sammlung von Möglichkeiten, die Geschichte von Pferden und Menschen zu erzählen, zu reflektieren, zu memorieren. Wie ein Teppich läuft der Text am Schluss in ungezählten Fransen aus. Ein Essay darf sich das erlauben. Er genießt Freiheiten, die der strengen wissenschaftlichen Form versagt sind." (342).
Für einen Essay indes sind 461 Seiten sehr lang. Aber "Essay" trifft voll zu: So oft wartet das Buch mit überraschenden Wendungen auf, mit ungewohnten Sichtweisen und gewagten Interpretationen, die sich einer wissenschaftlichen Belegbarkeit entziehen, die aber plausibel sind. Zum Beispiel wenn der Verfasser die Sentenz von Koselleck sich zu eigen macht, derzufolge es in der Geschichte nur ein Vor-Pferde-Zeitalter, ein Pferde-Zeitalter und ein Nach-Pferde-Zeitalter gibt, was der Gliederung der Geschichte in die Zeit vor der neolithischen Revolution, zwischen der neolithischen und der industriellen Revolution und dem Industriezeitalter ziemlich genau entspricht. Unerwartet grell wird mit dieser Sentenz die Bedeutung des Pferdes in der Geschichte beleuchtet. Warum nicht so die Geschichte periodisieren? Und damit ist nur eine von den vielen überraschenden Sichtweisen herausgegriffen. Der Rezensent ist Historiker, schreibt für ein historisches Rezensionsorgan und konzentriert sich wohlweislich nur auf historische Passagen. Denn alle Teile des Buches würdigen kann wohl nur einer: Der Verfasser.
Der Historiker erfährt z. B. zur Alltagsgeschichte viel Wissenswertes: Mörderischer Verkehr, verursacht durch Pferde, die doch so häufig scheuten, führte schon damals zu gar nicht wenigen Verkehrsunfällen mit Todesfolge. Die Konsequenz: Der Bordstein, der Fußgänger vom (Pferde-)Verkehr trennt, wird schon im Pferdezeitalter aus Gründen der Verkehrssicherheit eingeführt. Und in den Städten wimmelte es von Pferden, die Kutschen und Lasten zogen, die notwendig waren, um Städte - Großstädte! - mit ihrem alltäglichen und nicht-alltäglichen Lebensbedarf zu versorgen. Aber die vielen Pferde wollten auch untergebracht werden. Sie schliefen in mehrstöckigen Pferdedepots. Sie wollten versorgt werden, was Tränken überall und Haferlogistik erforderte. Und sie mussten jederzeit ausgeruht bereit stehen, wenn Eilkutschen zum Wechseln kamen.
Und dann die Entsorgung: Zuerst ihrer Hinterlassenschaften auf der Straße, dann der Klepper und Mähren selber, die man, bevor es zur Abdeckerei ging, des Pferdehaares wegen schor und die so ein elendes Bild von Vergänglichkeit boten. Und nicht zu vergessen die militärischen Aspekte. Der Streitwagen war dem Fußvolk überlegen, der Reiterkrieger dem Streitwagen. Die Kavallerie war oft genug kriegsentscheidend, trotz der Feuerwaffen, die sich nur sehr langsam zur Perfektion entwickelten, und letztlich erst nach dem Ersten Weltkrieg das Pferd als Waffe ausrangierten. Die Bedeutung des Pferdes als Zugpferd blieb davon zunächst noch unberührt. Schon Napoleon verlor seinen Russlandfeldzug so katastrophal am Schluss, auch weil er kein Futter und bald keine Pferde mehr hatte. Nicht nur die Kanonen konnten nicht mehr gezogen werden, die gesamte Heereslogistik brach mit dem bekannten Ergebnis zusammen.
Auch der Russlandfeldzug Hitlers geriet zum Desaster, nicht zuletzt weil in den russischen Schnee- und Schlammwüsten die Artillerie und selbst die militärischen Fahrzeuge von den viel zu wenigen Pferden gezogen oder aufgegeben werden mussten. Für die Weiten Russlands hatte das Deutsche Reich nach dem Scheitern des Blitzkrieges einfach zu wenig Pferde, zumal sie auch noch hinter der Front - auf dem Acker - immer noch so dringend notwendig waren! Und dann das leidende Pferd, das im Krieg angeschossene und zerschossene, dem das Gedärm heraushängt, dargestellt mit den Mitteln der Kunst: Das Tier erregt Empathie, oft viel mehr als der Mensch, was auch etwas aussagt zu den Verhältnissen zwischen Tier und Mensch und Mensch zu Mensch.
Und heute? Das Pferd ist in unseren Breiten nur noch ein Objekt des Luxus - ein Renn- und Dressurpferd, dem Höchstleistungen herausgequält werden oder ein Freizeit-Reitpferd vorwiegend für junge Damen, was den Verfasser zu nichthistorischen Reflexionen, u.a. auch zu Amazonen anregt.
Die Reihe der Erkenntnisse und Reflexionen ließe sich über viele Wissensgebiete weiterführen. Dem Historiker jedenfalls bietet das Buch so manche Anregung. Es wird auch dem Literaturwissenschaftler, dem Kunsthistoriker, dem Pferdliebhaber und anderen vieles sagen, was sie vorher nicht gewusst haben. Das macht den Wert des Buches für all jene Leser aus, die sich auf das Buch einlassen möchten. Zu hoffen ist, dass es viele werden: Das Buch ist ein Unikat und hat es schon allein deshalb verdient.
Manfred Hanisch