Anthea Callen: The Work of Art. Plein-air Painting and Artistic Identity in Nineteenth-century France, London: Reaktion Books 2015, 336 S., 143 Farb-, 56 s/w-Abb., ISBN 978-1-78023-355-0, GBP 30,00
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"The Work of Art. Plein-Air Painting and Artistic Identity in Nineteenth-century France" von Anthea Callen nimmt seinen Titel beim Wort: Ausgehend vom zweifachen Sinn des Begriffs "Work of Art", als finales Kunstwerk einerseits und als prozessuale "Arbeit an der Kunst" andererseits, richtet es den Blick vor allem auf materielle, technische und methodische Aspekte der Freilichtmalerei des 19. Jahrhunderts in Frankreich. Nicht das Werk als Resultat künstlerischer Tätigkeit steht im Vordergrund der Betrachtungen dieses Buches, sondern die Materialien, Werkzeuge und Methoden, derer es zu seiner Vollendung bedarf.
Die Praktiken der Freilichtmalerei, so die zentrale These der Autorin, bilden den Ausgangspunkt für die großen Innovationen der französischen Malerei im 19. Jahrhundert. Sie katalysieren die Entwicklung neuer radikaler Maltechniken, allen voran die Spachtelmalerei eines Gustave Courbets (1819-1877). Und sie wirken, indem sie einen identifikatorischen Kontrapunkt zur akademischen Salonmalerei bilden, entscheidend an der Formulierung der Identität des modernen Künstlers mit.
In vier Kapiteln vergleichbaren Umfangs und Aufbaus, die alle durch beredte Zitate eingeführt werden und einer klaren inneren Gliederung folgen, skizziert die Autorin Ursprünge, Geschichte und Popularisierung der Pleinairmalerei im 19. Jahrhundert. Sie untersucht Kontinuitäten und Wandel im Bereich der Materialien und Methoden in der Landschaftsmalerei. Der Zeitrahmen der Betrachtung reicht, dem Gegenstand gemäß, etwas über das Säkulum hinaus: von der ersten Blüte der Freilichtmalerei unter den europäischen Künstlern in Rom in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts bis zum Aufkommen des Kubismus in Paris.
In ihrer Rückschau auf die Entwicklung der Pleinairmalerei hebt sie die zentrale Rolle Pierre-Henri de Valenciennes' (1750-1819) hervor. Nicht ohne auf frühere praktische wie theoretische Auseinandersetzungen zum Thema bei Roger de Piles (1635-1709), François Desportes (1661-1743) oder Claude-Joseph Vernet (1714-1789) hinzuweisen, führt sie Valenciennes' Bedeutung für die Gattung der Landschaftsmalerei im Allgemeinen und die Freilichtpraxis im Speziellen aus. Zur Etablierung der Pleinairstudie in Öl habe er durch sein einflussreiches, in den Jahren 1799/1800 in verschiedenen Auflagen erschienenes Traktat "Elémens de perspective pratique", sein Engagement für die Einrichtung des Prix de Rome für historische Landschaftsmalerei ebenso wie durch seine Lehrtätigkeit an der Pariser Kunstakademie beigetragen. Als Professor für Perspektive machte er das Naturstudium mit Ölfarben zum festen Bestandteil seines Unterrichts.
Diesen entwicklungsgeschichtlichen Betrachtungen zum Status der Ölskizze stellt die Autorin - wie vielerorts sinnreich in dem Buch - konkrete, am Gegenstand vollzogene Überlegungen an die Seite: So können etwa kleine Löcher in den Ecken des Papiers einer Ölstudie von ihrer Verwendung im Freien zeugen, da sie gegen Wind mit Nägelchen auf der Unterlage fixiert wurde. Oder sie können ein Hinweis auf ihre Nutzung als Kopiervorlage sein. Mehrfache Perforierungen an den besagten Stellen lassen wiederum auf wiederholte Sitzungen schließen.
Technik und Ästhetik der Freilichtölskizze seien weit über das Landschaftsgenre hinaus an der Verschiebung künstlerischer Prioritäten im 19. Jahrhundert beteiligt. Mit den ihr zugesprochenen Eigenschaften, Unmittelbarkeit der beobachteten Effekte zu vermitteln und obendrein Ausdruck der Subjektivität des Künstlers und seiner Kunstfertigkeit zu sein, entspräche die étude dem zeitgenössischen Wunsch nach Authentizität. Damit böte sie eine Alternative zum "artifice" (21) der akademischen Malerei.
Das bewährte Wortspiel des Titels nimmt Callen im Verlauf ihrer Überlegungen in leicht abgewandelter Form erneut auf. Als "Worker-Painter" bezeichnet sie den bereits erwähnten Courbet und mit ihm seine jüngeren Künstlerkollegen Paul Cézanne (1839-1906) und Camille Pissarro (1830-1903). In den zwei zentralen Kapiteln ihres Buches untersucht sie den Einfluss von Courbets Maltechniken, insbesondere seiner rigorosen, den Gestus offenbarenden Spachtelmalerei auf die beiden jüngeren Künstler. Im Fokus stehen dabei Arbeiten aus der Mitte der 1860er- bis zum Ende der 1870er-Jahre, die Cézanne und Pissarro gemeinsam im Freien oder in Reaktion aufeinander ausgeführt haben.
Courbet sei nicht nur in Bezug auf die anti-akademischen Methoden prägendes Vorbild für die beiden jüngeren Maler, sondern im weiteren Sinne auch für deren künstlerisches und gesellschaftliches Selbstverständnis. Im Streben nach Authentizität und Wahrhaftigkeit ihrer Kunst pflegten alle drei ihre Rolle als "Outsider" - durchaus hier doppelt zu verstehen als soziale Grenzgänger wie als faktisch unter freiem Himmel arbeitende Maler. Ihren Biografien ist das gesellschaftliche Außenseiterdasein gemein: Courbet musste nach der Pariser Kommune ins Exil, Cézanne entschloss sich zum Rückzug in die Provence, und der jüdische Immigrant Pissarro war qua Herkunft ein Outsider par excellence. Wie sich das Selbstverständnis der beiden jüngeren Künstler als moderne Landschaftsmaler in Anlehnung an Courbet auch in ihrer physischen Erscheinung manifestiert - in ihrer betont informellen, rustikalen Kleidung und ihren ungetrimmten Bärten - zeigt die Autorin anhand historischer Fotografien. Überhaupt dient das reiche und vielseitige Bildmaterial ihr häufig dazu, ihre Überlegungen in einen umfassenderen kulturellen Kontext einzubetten. Mithilfe von Karikaturen, Auszügen aus Traktaten, Produkt- und Preisinformationen von Händlern für Künstlerbedarf und nicht zuletzt durch Fotografien konkreter Arbeitsutensilien zeichnet sie ein anschauliches Bild des modernen Landschaftsmalers und seiner Praktiken. Dass einige Bildunterschriften hilfreiche Zusatzinformationen geben, wiegt ihr Fehlen oder ihre Fehlerhaftigkeit im Einzelfall auf, etwa bei einem Gemälde Pissarros aus der Berliner Nationalgalerie (176, Abb. 137), das sich entgegen der Angabe nicht in Berlin-Dahlem, sondern zumindest seit 1968 in der Neuen, heute in der Alten Nationalgalerie befindet. Das in den USA nicht unübliche gemischte Register erweist sich als nützlich, wenngleich sich die Systematik der Erfassung nicht immer gänzlich erschließt.
Die Autorin baut mit diesem Buch ihren Schwerpunkt im Bereich französischer Malpraktiken des 19. Jahrhunderts aus. Die Souveränität ihrer Argumentation lässt ihre langjährige Auseinandersetzung mit dem Themenfeld sowie den vitalen Austausch mit den Fachkollegen erkennen. Obwohl sie hauptsächlich englischsprachige Literatur anführt, fehlen doch grundlegende Publikationen wie der, auch im methodischen Ansatz nahestehende Münchner Symposiumsband zur Barbizonmalerei von 1999 nicht (Barbizon. Malerei der Natur - Natur der Malerei, herausgegeben von Andreas Burmester, Christoph Heilmann und Michael F. Zimmermann, München 1999). Anthea Callen legt "The Work of Art" als Ergebnis zehnjähriger Forschung vor: Es ist seine "Arbeit" wert gewesen.
Maike Hohn