Rezension über:

Chris Marker: Kommentare 1. Übersetzt von Erich Brinkmann und Rike Felka, Berlin: Brinkmann und Bose Verlag 2014, 173 S., ISBN 978-3-940048-21-9, EUR 28,00
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Chris Marker: Kommentare 2. Übersetzt von Erich Brinkmann und Rike Felka, Berlin: Brinkmann und Bose Verlag 2014, 176 S., ISBN 978-3-940048-22-6, EUR 28,00
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Rezension von:
Barbara Filser
Institut für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe
Redaktionelle Betreuung:
Henning Engelke
Empfohlene Zitierweise:
Barbara Filser: Chris Marker: Commentaires (Rezension), in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 7/8 [15.07.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/07/28515.html


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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Chris Marker: Commentaires

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Mit der von Erich Brinkmann und Rike Felka besorgten Übersetzung der Commentaires liegen zwei wichtige Bände des Filmessayisten Chris Marker erstmals in deutscher Sprache vor. Sie erschließen einen Großteil der Kommentartexte von Markers frühen Filmen. Die französischen Originalausgaben wurden 1961 und 1967 veröffentlicht und sind bereits seit Jahrzehnten vergriffen. Lange boten sie nahezu die einzige Möglichkeit, einen Eindruck von Filmen zu gewinnen, die kaum oder nicht mehr zu sehen waren. Während mittlerweile einige davon erhältlich sind - allerdings weder mit deutschen Untertiteln noch in deutschsprachigen Fassungen -, bleiben andere weiterhin nur in Gestalt der Kommentare verfügbar. [1] Die Kommentare rücken aber auch ein weiteres Betätigungsfeld Markers in den Blick, das bislang nur wenig Beachtung gefunden hat: seine Arbeit mit dem Medium Buch.

Mit Ausnahme des Textes zu dem gemeinsam mit Alain Resnais realisierten Les Statues meurent aussi (Auch Statuen sterben, F 1953) berichten die in den beiden Bänden in chronologischer Folge enthaltenen Filmkommentare von fernen Ländern. Reiseziele wie die erst wenige Jahre alte Volksrepublik China, der noch junge Staat Israel und Kuba zwei Jahre nach der Revolution verraten Markers Interesse an Ländern, die sich im Auf- oder Umbruch befinden. Gemeinsam ist den Texten der Topos des Aufeinandertreffens von Vergangenheit und Zukunft, der im Lettre de Sibérie (Brief aus Sibirien, F 1957) im Nebeneinander von Lastwagen und Pferdefuhrwerk das Bild findet, "ohne welches es keinen wirklichen Film gegeben hätte, über ein Land, das dabei ist, sich zu verwandeln" (1:48 f.). Die Anstrengungen der Modernisierung in der unwirtlichen Region liefern weitere solche Momente, die Nachbarschaft von Planungsbüro und "einem magischen Baum" etwa, an dem "offensichtlich ohne die sozialistische Konstruktion infrage zu stellen" Votivgaben hinterlassen wurden (1:76).

Die Filme versammeln in einer mehr oder weniger losen Folge Beobachtungen und Eindrücke von Land und Leuten, sprechen historische Ereignisse, Bräuche und Traditionen an und gehen auf Sagen und Legenden ein. Lesenswert sind ihre Kommentartexte nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Strategien, diese Fülle zu strukturieren: So folgt etwa der Spaziergang durch die Stadt, den Dimanche à Pékin (Ein Sonntag in Peking, F 1955) unternimmt, einem Tagesablauf, der mit Zeitangaben versehen ist. Der Brief aus Sibirien beginnt mit einem Zitat aus einem Gedicht von Henri Michaux - "Ich schreibe Dir aus einem fernen Land" (1:41) -, das im Verlauf des Textes mehrmals in leichter Abwandlung wiederholt wird. Si j'avais quatre dromadaires (Wenn ich vier Dromedare hätte, F 1967), der zum Abschluss der beiden Bände ein Resümee der Reisen Markers präsentiert, entwickelt das Szenario einer Unterhaltung zwischen einem Fotografen und zwei Freunden, die über dessen Bilder aus allen Ecken der Welt sprechen.

Heute noch aktuell erscheint der zentrale Gedanke von Les Statues meurent aussi: Für die Artefakte afrikanischer Kulturen bedeutet ihre Aufnahme in europäische Museen den Tod. Dem "Gewebe der Welt" (1:15), in das sie eingebettet waren, entrissen werden sie zu bloßen Zeugnissen von Kunst oder Kunsthandwerk.

Les Statues meurent aussi durfte aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber dem Kolonialismus zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des ersten Bandes nicht in französischen Kinos gezeigt werden, ebenso wie der ebenfalls darin enthaltene Cuba Si! (1961) aufgrund seiner Parteinahme für Castro und die Revolution. Neben den Texten zu nicht oder selten zu sehenden Filmen enthalten die Bücher aber auch je einen Kommentar, zu dem niemals ein Film existiert hat, den als "imaginärer Film" bezeichneten "Amerika träumt" (1959) im ersten und "Soy Mexico" (1965) im zweiten Band. Diese beiden umfangreichen, ebenso reich wie die anderen bebilderten Texte sind ein Indiz dafür, dass die Bücher nicht lediglich als Mittel dienen sollten, die Filme zumindest durch Transkriptionen ihrer Kommentare verfügbar zu machen, sondern sie als eigenständige Werke gelten können.

Marker hat mehrere Bücher veröffentlicht [2], doch sind im Hinblick auf die Commentaires vor allem die Reiseführer der im Verlagshaus Seuil erschienenen Reihe Petite Planète von Interesse, die er 1954 initiierte und bis 1958 betreute: Neben ihren kulturgeschichtlichen Texten hoben sich die kleinen Taschenbücher besonders durch die vielen Bilder und ein unkonventionelles Layout von anderen Publikationen dieses Genres ab. [3] Die Commentaires enthalten jeweils an die dreihundert schwarz-weiße Abbildungen, die größtenteils den Filmen entstammen. Ergänzt werden diese um Bilder aus anderen Filmen, Fotografien und auch Comics oder Werbeanzeigen, die vor allem bei den beiden imaginären Filmen Einsatz finden. War allein schon die hohe Zahl an Abbildungen ungewöhnlich für kleinformatige Bücher, ist es das nach Vorlagen von Marker realisierte Layout, das auch heute noch ins Auge fällt. Es gibt nahezu keine Seiten ohne Bilder und keine Seite gleicht der anderen. Während sich die an den äußeren Seitenrändern platzierten Bildchen wie Marginalien ausnehmen, die den Text ergänzen oder erst verständlich werden lassen, ergibt sich insgesamt ein vielschichtiges Miteinander von Bild und Text, das eine genauere Analyse wert wäre. Zusammen mit der typografischen Gestaltung sind nach Rick Poynor die Commentaires somit nicht nur filmgeschichtlich von Interesse, sondern hätten auch einen Platz in der Geschichte des Editorial Design verdient. [4]

Die vorliegende Übersetzung lässt sich mit gutem Recht als deutschsprachige Fassung der Commentaires bezeichnen, da sie deren Layout und typografische Gestaltung übernimmt. Dabei wurde auch darauf geachtet, die Anordnung der Bilder in Relation zum Text möglichst beizubehalten beziehungsweise im Einklang mit der Übersetzung anzupassen. In Kauf nehmen lässt sich daher, dass die Abbildungen mangels Originalvorlagen aus den Büchern reproduziert werden mussten (Editionsvermerk, 1:174). Als Vorlage für die Übersetzung des ersten Bandes diente die Neuauflage, die 1967 zusammen mit den Commentaires 2 veröffentlicht wurde und im Layout weitgehend mit der von 1961 übereinstimmt.

Texte Chris Markers ins Deutsche zu übertragen ist aufgrund ihrer literarischen Qualität keine leichte Aufgabe. Der bisweilen leise, hintergründige Witz, Wortspiele sowie die Anspielungen auf Literatur, Film, Musik, Kinderbücher und Comics sind nur einige der Herausforderungen, denen sich die Übersetzer gegenübergesehen haben. Die Rezensentin hätte diese an der einen oder anderen Stelle anders gelöst und sich beispielsweise bei der wiederholten direkten Adressierung der Leser und Leserinnen im "Brief aus Sibirien" für die durchgängige Verwendung des familiären "Du" oder des formaleren "Sie" entschieden. Dies und die ein, zwei Fehler, die sich eingeschlichen haben, vermögen jedoch keineswegs die Anerkennung zu schmälern, die den Übersetzern für ihre Arbeit zu zollen ist.

Es bleibt zu hoffen, dass diese längst überfällige deutsche Ausgabe der Commentaires der Auseinandersetzung mit Chris Marker im deutschsprachigen Raum neue Impulse geben wird. Auf jeden Fall hat der Verlag mit den Kommentaren zwei ansprechend aufgemachte Bände vorgelegt, die nicht nur Filmliebhaber und Filmliebhaberinnen, sondern auch Freunde und Freundinnen schöner Bücher gerne in den Händen halten werden.


Anmerkungen:

[1] Auf DVD erhältlich sind Les Statues meurent aussi (1953), Dimanche à Pékin (1955), Lettre de Sibérie (1957) und Description d'un combat (1960).

[2] Zum Beispiel Chris Marker: Les Coréennes. Paris 1959, ein Fotobuch, oder: Le Dépays. Paris 1982, ein schmaler Text-Bild-Band über Japan.

[3] Isabel Stevens on Chris Marker's Petite Planète (2014), in: Aperture Blog, http://aperture.org/blog/isabel-stevens-chris-markers-petite-planete/ (20.12.2015); Hervé Serry: Chris Marker au Seuil, http://www.seuil.com/page-hommage-chris-marker.htm (20.12.2015), zur Tätigkeit Markers für das Verlagshaus.

[4] Rick Poynor: The Filmic Page: Chris Marker's Commentaires (22.03.2014), in: The Design Observer, http://designobserver.com/feature/the-filmic-page-chris-markers-commentaires/38371/ (20.12.2015).

Barbara Filser