Frank Zielsdorf: Militärische Erinnerungskulturen in Preußen im 18. Jahrhundert. Akteure - Medien - Dynamiken (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frühen Neuzeit; Bd. 21), Göttingen: V&R unipress 2016, 305 S., ISBN 978-3-8471-0496-4, EUR 45,00
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Die Entwicklung des Militärwesens nach dem Dreißigjährigen Krieg hin zu stehenden Heeren, spätestens aber die Einführung des Kantonsystems unter dem "Soldatenkönig" Friedrich Wilhelm I. im Jahr 1733 führte auch in Preußen zur Herausbildung dauerhafter Regimentsgemeinschaften. Die Verwendung von Uniformen ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bildete eine weitere Voraussetzung für die wachsende "Gruppenidentität" (127). In seiner Gießener Dissertation untersucht Frank Zielsdorf die Entwicklung von Identität und Selbstverständnis auf Ebene der brandenburgisch-preußischen Regimenter v.a. für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Identifikation mit der eigenen "Schicksalsgemeinschaft" (14), mit den aktiven Kameraden ebenso wie mit den Ehemaligen, Erinnerten, lag näher als die sich ebenfalls im 18. Jahrhundert herausbildenden Identifikationsangebote 'Nation' und 'Vaterland'. Zielsdorf nähert sich seinem Untersuchungsgegenstand in viererlei Hinsicht: Er unterscheidet verschiedene Akteure als Träger und Produzenten von Erinnerung, untersucht den Inhalt der Erinnerung und die Kriterien, die zu dessen Auswahl führten, und zeichnet den diachronen Wandel nach, dem Erinnerungskulturen unterworfen waren. Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen aber die zur Erinnerung eingesetzten Medien und Praktiken. Ausgewertet werden nahezu ausschließlich gedruckte Quellen wie Regimentsgeschichten, autobiografische Schriften, Arbeiten zu Uniformen und Denkmalen sowie Münzkataloge.
Nach einer Hinführung zum Thema und einer theoretischen Grundlegung seiner Studie (13-32) nimmt Zielsdorf nacheinander verschiedene Mediengruppen in den Blick, die zur Regimentserinnerung eingesetzt wurden. Dauerhafter präsent als im kommunikativen Gedächtnis konnten militärische Erinnerungskulturen nur durch schriftliche Fixierung, Artefakte oder performative Praktiken werden. Diese wurden nicht nur durch Angehörige des Heeres initiiert: Durch die Erweiterung des Blickfeldes auf andere Akteure wie den König als "unmittelbaren und mittelbaren Stifter militärischer Erinnerungskulturen" (169), der geradezu "Erinnerungspolitik" (176) betrieb, und interessierte Angehörige der Zivilgesellschaft gelingt es dem Autor, die Reichweite regimentsbezogener Erinnerungskulturen deutlich zu konturieren und letztlich sogar "Erinnerungskonkurrenzen bzw. -konflikte, aber auch symbiotische Interaktionen" (20) - etwa zwischen militärischem und adligem Erinnerungsstreben - festzustellen.
Aus der Gruppe schriftlicher Zeugnisse militärischer Erinnerungskulturen (33-124) hebt Zielsdorf vor allem die Regimentsgeschichten hervor, die, inspiriert durch französische Vorbilder, ab 1767 gedruckt wurden. Die Materialien wurden durch die Regimenter bzw. deren Angehörige gesammelt und von verschiedenen Herausgebern publiziert. Regimenter arbeiteten also aktiv an der Gestaltung ihrer Außenwahrnehmung mit. Im Mittelpunkt dieser Arbeiten stand militärisches Verdienst. Siege beeinflussten die Bereitschaft der Soldaten erheblich, in eine weitere Schlacht zu ziehen; die Erinnerung an sie hatte also eine konkrete Funktion. Zielsdorf interpretiert die Regimentsgeschichten aber auch als "Schriften zur Rechtfertigung, Verteidigung bzw. zur Selbstvergewisserung der eigenen Leistungen" (39), was vor allem in ihrem Umgang mit Niederlagen ersichtlich wird: Die Regimentsgeschichten erinnerten auch negative Ereignisse. Eigenes Versagen konnte dadurch relativiert und gerechtfertigt, die tatsächliche Niederlage auf diese Weise euphemistisch in ein "Nichterreichen des Sieges" (56) umgedeutet werden. Neben der Modifikation von Sachverhalten war deren Verschweigen aber ein ebenso probates Mittel, um Schwächen zu kaschieren.
Im Zentrum der Geschichten standen die meist adligen Offiziere als "Träger der Regimentsidentität" (41). Sie waren gleichzeitig die Hauptadressaten (und somit potentielle Käufer) der Schriften. Im Unterschied dazu wurden die gemeinen Soldaten, die den größten Teil der Erinnerungsgemeinschaft Regiment ausmachten, kaum oder nur summarisch erwähnt. Bemerkenswerterweise wurde die Fortsetzung der Regimentsgeschichten frühzeitig durch Friedrich II. verboten, der sich dadurch die Deutungshoheit über vergangene Ereignisse zu sichern suchte. Er spielt immer wieder eine zentrale Rolle in Zielsdorfs Ausführungen, da Friedrich als eher retardierendes Moment wirkte und regimentseigene Erinnerungskulturen nur in geringem Maße zuließ. Nach seinem Tod änderte sich dies. Den scheinbaren Widerspruch in seinem Handeln hinsichtlich militärischer Erinnerung, einerseits Denkmale zu stiften und andererseits regimentseigene Publikationen zu unterbinden, löst der Autor unter dem Gesichtspunkt "königlicher Kontrolle" auf (185).
Die Geschichte eines Regiments wurde nicht nur durch schriftliche Quellen erinnert und bewahrt, sondern auch in materialisierter Form (125-227). Zielsdorf unterscheidet zwischen militärischen Instrumenten wie Waffen und der Fahne als "symbolischer Mittelpunkt eines Regiments" (142) und eigens zum Zweck der Erinnerung geschaffenen Objekten, denen nur bedingt oder keinerlei militärische Funktion zukam (Bilder, Denkmale, Münzen und Medaillen). Selbst diese Darstellungs- und Erinnerungsformen betrachtet Zielsdorf nur über die dazu existente Literatur, obwohl sich gerade hier der Einsatz von Abbildungen zu einzelnen Artefakten anböte. Die Publikation ist indes vollkommen unbebildert. Mit festlich begangenen Ereignissen wie Jahrestagen und Stiftungsjubiläen zeigt die Studie als letztes ein Repertoire von Anlässen und Praktiken als Mittel zur Distinktion, Identitätsstiftung und Erinnerung (229-271), was an zahlreichen, wenn auch für die Fragestellung nicht durchgehend relevanten, sondern bisweilen eher kuriosen Beispielen veranschaulicht wird.
Zielsdorf betont vor allem die ideellen Absichten der verschiedenen Akteure, die sich im von ihm gezeichneten "vielschichtige[n] Prozess, in dessen Verlauf Erinnerungskulturen entstanden, verloren gingen und andere sich neu herausbildeten" (282), engagierten. Materielle Aspekte klingen stattdessen nur vereinzelt an. In seinem Resümee (273-283) erwägt er neben 'patriotischen' Gründen zwar auch wirtschaftliche Interessen, die beispielsweise zum Entstehen von Regimentsgeschichten beigetragen hätten; im entsprechenden Kapitel selbst hingegen vermisst man eine Betrachtung dieses sicherlich nicht unwesentlichen Faktors gänzlich, obwohl sich in den zahlreichen und ausführlichen Quellenzitaten, die das ganze Buch - an mancher Stelle im Übermaß - durchziehen, durchaus entsprechende Anklänge finden, ohne dass der Autor aber Bezug auf sie nehmen würde. So sprach der Fähnrich von Geipitzheim, der 1778, noch nach dem Verbot des Königs, eine eigene Regimentsgeschichte herausgab, von seinen Lesern als "einigen Gönnern" (68) und betonte "Ihre gütige Beyhülfe" (67). Nicht nur hier deuten sich finanzielle Absichten bei der Schaffung von Erinnerung durch Dienstleister an. Wie die Projekte konkret abgewickelt wurden, wer also die eigentlichen Initiatoren und die Finanziers der Regimentsgeschichten waren (evtl. Subskription unter den Offiziersfamilien), bleibt im Dunkeln und wird auch nicht problematisiert. Lediglich für den Bereich der Artefakte weist der Autor auf die Gewinnperspektiven für die Hersteller hin, die das Geschäft mit der Erinnerung attraktiv machten.
Besonders interessant in Zielsdorfs Studie nehmen sich die leider nur punktuellen Hinweise auf die konkrete Rezeption und eine kritische Auseinandersetzung von (unzufriedenen) zeitgenössischen Lesern mit den gedruckten Werken bezüglich deren Inhalts aus (53f.). Die Darstellung geht hier über die direkte Wiedergabe oder paraphrasierende Nacherzählung der gedruckten Regimentsbeschreibungen hinaus und stellt intertextuelle Bezüge zwischen den verschiedenen Quellen(gattungen) her. Etwas problematisch gestaltet sich leider die inhaltliche Erschließung des Bandes, da ein Register fehlt. Dies schmälert das Verdienst des Autors, die perspektivenreiche Betrachtung von Preußens militärischer Erinnerungs- und Vergessenskultur, freilich nur geringfügig.
Andreas Flurschütz da Cruz