Rezension über:

Jean-Marie Schaeffer: Beyond Speculation. Art and Aesthetics without Myths (= The French List), Calcutta / London / New York: Seagull 2015, 285 S., ISBN 978-0-85742-042-8, USD 35,00
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Rezension von:
Michael Kausch
Institut für Kunstwissenschaft, Universität Koblenz-Landau
Redaktionelle Betreuung:
Jessica Petraccaro-Goertsches
Empfohlene Zitierweise:
Michael Kausch: Rezension von: Jean-Marie Schaeffer: Beyond Speculation. Art and Aesthetics without Myths, Calcutta / London / New York: Seagull 2015, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 9 [15.09.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/09/27842.html


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Jean-Marie Schaeffer: Beyond Speculation

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1. Bereits in der Einleitung formuliert der Autor das im Titel angedeutete Programm seiner Untersuchung aus: Diese ist gegen die spekulative Tradition der Kunsttheorie gerichtet und unternimmt eine kritische Anknüpfung an die ästhetische Analyse, wie sie im 18. Jahrhundert - vor allem bei Kant, auf den er sich in seinem Werk wiederholt bezieht - verstanden wurde. Was die aktuelle Situation betrifft, so wendet sich Schaeffer gegen den "myth of the spiritual extraterrioriality of the work of art" (4), der in der zeitgenössischen Ästhetik mit dem der "spiritual extraterrioriality of the aesthetic relation" (4) kombiniert werde. Der zentrale Mythos der philosophischen Ästhetik bestehe in Kants Verbindung eines subjektiven und eines universellen Urteils.

In der Folge präsentiert der Autor eine Reihe grundsätzlicher Eckpunkte seiner Konzeption:

- Der Begriff des Kunstwerks ist ein unscharfes Konzept mit unklaren Grenzen.

- Ästhetisches Verhalten ist nicht durch die Objekte definiert, auf das es gerichtet ist, sondern durch die Natur der Beziehung, die es zu diesen aufbaut.

- Als Hauptthese: Die ästhetische Beziehung grenzt ein spezifisches anthropologisches Verhalten ab und existiert daher transkulturell.

- Die ästhetische Beziehung ist eine kognitive und sie ist interessiert (gegen Kant).

- Die ästhetische Beziehung ist intentional.

2. Im ersten Hauptteil seiner Untersuchung "The Work of Art" bietet Schaeffer eine Diskussion von Status, Struktur und Funktion des Kunstwerks. Hier wird zunächst die Kritik an der philosophischen These einer ontologischen Spezifität des Kunstwerks wiederholt und fünf semantische Schichten des gewöhnlichen Begriffs des Kunstwerks analysiert. Unter anderem wird festgestellt, dass die mentalen Vorgänge beim künstlerischen Schaffensprozess nicht verschieden von jenen bei anderen kreativen Prozessen seien. Auch läge der Ursprung des Werks nicht notwendigerweise in einer primären und spezifischen ästhetischen Intention. Dementsprechend wird eine Unterscheidung von ästhetischer Intention - vor dem schöpferischen Prozess - und ästhetischer Aufmerksamkeit (attention) - einer ästhetischen Wahrnehmung des Werks post factum - vorgenommen, sowie einer "intention in action". In Anlehnung an John Searle unterscheidet der Autor auch noch zwischen einer intrinsischen und einer abgeleiteten Intentionalität ("intrinsic and derived intentionality"). Weder intentionale Kausalität noch ästhetische Stiftung (endowment) durch die abgeleitete Intentionalität gelten dem Autor als notwendige und ausreichende Bedingung, um einem Objekt den Status eines Kunstwerks zu verleihen. Dasselbe gilt - in Abgrenzung u.a. von der Symboltheorie Nelson Goodmans - für die Konzeption des Kunstwerks als kulturelles Symbol bzw. als Zeichensystem. Als Beispiel hierfür wird die Architektur gebracht, in der der symbolisch-semantische Aspekt gegenüber dem funktionalen bekanntlich stark in den Hintergrund treten kann.

Aus den Ergebnissen seiner Untersuchung zieht Schaeffer die Schlussfolgerung eines "abandonment of the quest for a definition in terms of necessary and sufficient conditions. [...] For the most part, cultural notions are vague concepts with blurred and unstable boundaries" (71).

Als Ergebnis seiner Untersuchung entwirft der Autor eine Matrix von Eigenschaften eines Kunstwerks:

- Eine absolute Eigenschaft: Das Objekt muss das Ergebnis einer intentionalen Kausalität sein, disjunktiv spezifiziert in ein einfaches Artefakt oder ein semiotisches Objekt.

- Drei variable Eigenschaften: Gattungsmäßige Zugehörigkeit (generic appurtenance), ästhetische Intention und ästhetische Aufmerksamkeit. Die jeweilige Verteilung innerhalb des letzteren Schemas variiert je nach Kunstgattung, Stilrichtung, Kunstregion oder Kunstepoche. Dabei stehen die Kriterien in einer kompensatorischen Relation.

3. Der zweite Hauptteil der Untersuchung "Aesthetic Behaviour" befasst sich mit dem Verhaltenspol der ästhetischen Struktur, den der Autor ja gegenüber dem Werk- bzw. Gegenstandspol für den bestimmenden hält. Dementsprechend betont er, dass alles zu einem ästhetischen Gegenstand werden könne und lehnt eine essentielle Hierarchie von möglichen Gegenständen der ästhetischen Anziehung als bedeutungslos ab. Das spezifisch Ästhetische liegt für Schaeffer also eindeutig mehr im Verhalten als in den Objekten. Außerdem sieht er - gegen Kant - auch die Entgegensetzung von ästhetischem Verhalten und einem in praktischem Interesse gründenden Verhalten als bedeutungslos an, da jedes Verhalten als vital funktionell auf einem praktischen Interesse basiere. Diese Absage an Kants "interesseloses Wohlgefallen" wird allerdings in den folgenden Definitionsversuchen ästhetischen Verhaltens wieder relativiert: "There is aesthetic behaviour when any cognitive activity whatsoever becomes in itself, as such, a ground of (dis)satisfaction" (113).

4. Der folgende Abschnitt ist der Diskussion des ästhetischen Urteils gewidmet. Hier wird zunächst dessen Beziehung zu Werten analysiert: Zwar wird ein grundsätzlicher Bezug des ästhetischen Urteils zu verschiedenen Arten von Werten festgestellt, doch lehnt Schaeffer - wie aufgrund seiner bisher skizzierten Position nicht anders zu erwarten - eine evaluative Definition des Kunstwerks ab. Eine solche sei "no more than a hyperbolic form of objectivation" (136). Der ästhetische Wert sei dem Kunstwerk eben nicht intrinsisch. Werturteile würden nichts über das Objekt selbst aussagen, sie beschrieben eher einen psychologischen Zustand, eine Aussage, die dem Autor wohl mit dem Vorwurf des Psychologismus konfrontieren muss.

Das notwendigerweise auf einem präexistenten Konsensus basierende Urteil des Kunstkenners als objektive Referenz des ästhetischen Urteils lehnt Schaeffer im Sinne eines soziologischen Relativismus ab. Die Zuweisung eines "objektiven" oder "subjektiv-universalen" Werts wird gar als autoritäre Forderung disqualifiziert!

Trotz der Bestimmung des ästhetischen Urteils als relativ und subjektiv sieht der Autor diesbezüglich doch empirische Regularitäten im ästhetischen Urteil, die er auf anthropologische Konstanten zurückführt. Gerade in diesem Punkt wird die Nähe der Konzeption Schaeffers zum Empirismus David Humes deutlich.

Es folgen Abgrenzungen des ästhetischen vom normativen Urteil einerseits und von legitimer Kunstkritik (criticism) andererseits.

5. Der letzte Hauptabschnitt der Abhandlung hat die Beziehung von ästhetischen Objekten und der ästhetischen Aufmerksamkeit (attention) zum Gegenstand. Bezüglich der Typologie ästhetischer Objekte wird noch einmal bekräftigt, dass es sich bei diesen nicht um eine Klasse ontologisch spezifischer Objekte, sondern um eine funktionelle Klasse handelt. Objekt- und Beziehungsklassen werden übersichtlich in Schemata dargestellt (199, 208). Wichtig für die Erfassung der Komplexität ästhetischer Phänomene ist die Feststellung, dass die Identität (bzw. die Struktur) von Akten, Artefakten und Zeichen bzw. von Kunstwerken eine geschichtete (stratified) ist. Positiv zu vermerken ist die Tatsache, dass die Konzeption Schaeffers nicht auf die semiotisch-funktionelle Ebene beschränkt bleibt, sondern diese im Sinne der Hermeneutik erweitert und vertieft. So würden bei der Interpretation die intentionalen Bedeutungen eines Werks in den Kontext des Hintergrunds des Autors situiert. Annahmen seien notwendige Randbedingungen des Verstehensprozesses.

6. Abschluss und Fazit: Im abschließenden Kapitel gibt Schaeffer selbst eine Zusammenfassung des Ergebnisses seiner Untersuchung: "The picture of aesthetic behaviour that emerges from the foregoing analyses is that of an anthropological fact, an activity that takes its place quite naturally among other behaviour based on our cognitive relation to the world." (260)

Die Stärke der Arbeit, nämlich die humanwissenschaftliche Fundierung der Ästhetik, korreliert mit den Schwächen bzw. problematischen Punkten, wie der Ablehnung einer ästhetisch bzw. ontologisch spezifischen Struktur des Kunstwerks und diesem intrinsischer Werte. Dies soll jedoch die Würdigung des Werkes nicht einschränken, das nicht zuletzt geprägt ist von einer in vorbildlicher Weise unparteiischen, offenen Diskussionskultur, von der man sich - zumal im Bereich der deutschen Kunstwissenschaft - oft etwas mehr wünschen würde. Die experimentelle Grundeinstellung, die dialektische Gedankenentwicklung und nicht zuletzt die lebendige Sprache machen das Werk zu einem Werkzeug der Hinterfragung und Weiterentwicklung eigener Positionen. Empfehlenswert ist natürlich die Lektüre im französischen Original.

Michael Kausch