Roman Kurzmeyer: Existenz und Form. Schriften zur neueren Kunst, Berlin: De Gruyter 2015, 241 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-045239-6, EUR 34,95
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"Ich finde, wenn wir die Poesie des Königs Lear lesen, was schert es uns, wie der Dichter lebte". [1]
Die Frage, welchen Anteil Biografisches an der Entstehung von Kunst hat und inwiefern dieser wiederum notwendig ist zum Verständnis eines Werkes, bot und bietet spätestens seit Giorgio Vasaris kunstbiografischen Schriften immer wieder Anlass zu theoretischen Reflexionen und Disputen. Der Stellenwert biografischer Faktoren ist dabei seit jeher kontrovers diskutiert worden.
Ist das Paradigma des Biografischen eine grundlegende oder eine längst überholte Kategorie? Der Selbständigkeit des Kunstwerkes, das keiner lebensgeschichtlichen Unterfütterung zu seinem Verständnis bedarf, steht die Auffassung von der Sinnhaftigkeit und damit Notwendigkeit biografischer Analyse gegenüber.
Genau in diesem theoretischen Spannungsfeld ist die Publikation "Existenz und Form" von Roman Kurzmeyer angesiedelt.
Kurzmeyer befasst sich in seinem 2015 erschienenen handlichen Band auf 241 Seiten vorrangig mit der Frage, welche Rolle Lebensgeschichtliches für die Handlungsräume des Künstlers spielt. Auf ein knappes Vorwort und eine kurze Einleitung folgen zwölf Aufsätze, in ihrer literarischen Offenheit eher noch als Essays zu bezeichnen, die sich laut Titel nominell mehrheitlich einer Künstlerpersönlichkeit annehmen. Es folgt ein ausführlicher und informativer Anmerkungsteil, ein Schlusskapitell fehlt.
Die Stoßrichtung der Aufsatzsammlung gibt Kurzmeyer im Vorwort vor. Den Topos des Biografischen verknüpft er hier mit dem "Konzept von Autorschaft" (9). Dies mündet in die programmatische Aussage, die auch als Kernthese gelesen werden darf: "Der Entstehungsgeschichte von Kunst kommt somit Bedeutung zu: Für die Identität, die Unverwechselbarkeit eines Werkes ist sie entscheidend." (10) Hier sind bereits die Leitvokabeln genannt, die Kurzmeyer unter der Kapitelüberschrift "Existenz und Form" in der Einleitung behandelt: Autorschaft und Identität.
In diesem Passus, der sich in fünf Unterkapitel aufgliedert, geht Kurzmeyer nach eigenen Worten "im grundsätzlichen Sinne auf die Theorie der Autorschaft ein" (9). Dem kann man nur bedingt zustimmen. Recht verknappt gibt Kurzmeyer auf den anschließenden Seiten einen Abriss verschiedener Positionen zum Konzept "Autorschaft". Zwar schlägt er den Bogen weit: Von Giorgio Vasaris Künstlerbiografien des 16. Jahrhunderts zu den Philosophen Michel Foucault und Roland Barthes in den 1960er-Jahren. Zwischen diesen historischen Klammern, die zeitlich ein weites Terrain abstecken, bietet er keine explizite systematische Definition des Terminus "Autorschaft", wie überhaupt eine Klärung der verwendeten Nomenklatur unterbleibt. Nicht nur der Begriff "Autor" bleibt in einer definitorisch offenen Zone, auch die Vokabeln "Identität" und das titelgebende Begriffspaar "Existenz und Form" sind davon betroffen. Ist beim Begriff "Existenz" die Konnotation an die allgemeinsprachliche Bedeutung des Wortes im Sinne von "Leben" erwünscht und ausreichend oder zielt es auf den Kontext der Existenzphilosophie? Kurzmeyer überlässt es dem Leser, die Vokabeln mit Begriffsinhalten zu füllen. Diese fehlende Festlegung birgt die Gefahr einer gewissen Hülsenhaftigkeit und Beliebigkeit der verwendeten Fachtermini.
In den zwölf Essays liefert Kurzmeyer dichte Kurzbiografien, die sich von der gängigen Kategorie der Lebens- und Werkbeschreibungen evident unterscheiden.
Kurzmeyer verzichtet darauf, "normale" biografische Stationen als Leistungsschau abzuhaken und die Vita als geradlinige Entwicklung zu künstlerischer Reife von der Wiege bis zum Sarg zu stilisieren. Auch befasst er sich, anders als Vasari, nicht ausschließlich mit den berühmten "più eccelenti" der Zunft, sondern geht vor allem zu Beginn seiner Schriftensammlung auf die Lebensgeschichten von Künstlern in sozialen Randgruppen ein. Hier sei etwa der afroamerikanische Zeichner Bill Traylor genannt, doppelt marginalisiert durch Ethnie und Sklavenstatus, der als Sonderling stigmatisierte Heinrich Anton Müller oder die Künstlerin Annemarie von Matt, letztere qua Geschlechtszugehörigkeit randständig in einer Männerdomäne, um nur diese drei Positionen namentlich zu erwähnen. Allesamt sind sie in die Sphäre der Außenseiterkunst einzuordnen. Mit Gerhard Richter, Joseph Beuys und Andy Warhol wendet er sich zudem den "großen" Namen zeitgenössischer Kunst zu.
Ob Außenseiter, Star oder Newcomerin, im Prinzip nähert sich Kurzmeyer all seinen Künstlern und Künstlerinnen auf die gleiche, intensive Art. Der individuelle Einzelfall erfährt Einbettung in ein soziokulturelles Umfeld. So beschränkt sich Kurzmeyer nicht darauf, den "einen" Künstler zu betrachten, sondern ergänzt die Lebensbeschreibungen seiner Akteure im Sinne der Vernetztheit um Aspekte aus der Vita weiterer Künstler, Weggefährten, Zeitgenossen. Im Falle Traylors etwa um Exkurse zu Charles Shannon, Annemarie Schwarzenbach, Albert Lubaki und weitere hier nicht explizit genannte Positionen. So verflechten sich biografische Hauptwege mit Nebenwegen zu einem dichten biografischen Konglomerat, das man am ehesten mit dem Adjektiv "embedded" umschreiben kann. Die vielfachen Einschübe sorgen für hohe Komplexität im Inhaltlichen und Formalen, allerdings führen sie mitunter recht weit vom ursprünglichen Sujet fort. Das macht die verschachtelten Lebensbeschreibungen stellenweise etwas zu weitschweifig.
Methodisch scheint hier Georg Simmels soziologisches Theorem vom "Schnittpunkt sozialer Kreise" Pate gestanden zu haben. [2] Laut Simmel kommt Individualität nur dadurch zustande, dass jeder Mensch in einem speziellen Schnittpunkt sozialer Kreise steht. Obwohl Kurzmeyer von einem biografisch geprägten Untersuchungsansatz ausgeht, nimmt er keine Verortung in der Biografieforschung vor.
Bei der Auswahl der erzählenswerten biografisch relevanten Ereignisfaktoren legt er den Schwerpunkt auf künstlerische Präsentationsformen und Präsentationskontexte. Hier sei stellvertretend der Beitrag über Pawel Althamer herausgegriffen, in dem die Ausstellungen und Performances des Künstlers als biografisches Erzählgerüst fungieren. So sehr dies dem Verständnis des Schaffens helfen mag, stellt sich angesichts der Aufzählungen gelegentlich ein Eindruck der Redundanz ein. In anderen Beiträgen dienen übergeordnete Begrifflichkeiten und Schlagwörter als Motto, unter dem unterschiedliche Künstler in einem Aufsatz subsumiert werden. So etwa in "Sichtbarer Rhythmus - Marcel Duchamp, Brian O'Doherty, Niele Toroni" (125-137).
Die Frage, aus "wie tiefem Leben die Kunst geboren ward" [3], eine der grundlegenden Fragen nach der existentiellen Dimension künstlerischen Schaffens überhaupt, wird in diesen Texten allerdings nicht gestellt. Statt existentieller Tiefbohrungen, wie sie der Titel vermuten ließe, erzählt der Autor informativ in die "Breite".
Nicht ohne Grund verzichtet Kurzmeyer auf ein Fazit. Verallgemeinerbare, verbindliche Schlussfolgerungen sind bei der biografischen Methode selten zu erwarten.
Der strenge Zwei-Wort-Titel "Existenz und Form" lockt auf eine falsche Fährte. Er ruft unweigerlich Assoziationen an ähnlich klingende Formulierungen wach, man denke an Martin Heideggers "Sein und Zeit" oder Jean-Paul Sartres "Das Sein und das Nichts". Er weckt Erwartungen, die er, wie man nach der Lektüre sagen darf, nicht erfüllt und lenkt von der tatsächlichen Leistung der Publikation ab. Fakten- und kenntnisreich, hin und wieder mit dem Hang zu Anekdotenhaftem, gelingt es Kurzmeyer, in lesenswerten, überwiegend luziden Porträts sein Konzept von Autorschaft schreibend zu realisieren.
Anmerkungen:
[1] James Joyce: Ulysses, Frankfurt am Main 1981, 265.
[2] Georg Simmel: Aufsätze 1887-1890. Über sociale Differenzierung (1890). Die Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Frankfurt am Main 1989.
[3] James Joyce, vgl. Anm. 1, 260.
Barbara Weyandt