Annie Sartre / Maurice Sartre: Palmyre. Vérités et légendes, Paris: Editions Perrin 2016, 263 S., ISBN 978-2-262-06615-4, EUR 14,00
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Vor wenigen Monaten war hier die deutsche Übersetzung des Palmyra-Buches von Paul Veyne anzuzeigen. [1] Veyne, Altmeister der französischen Althistorie, ist kein Insider, keiner derjenigen, die dem Nahen Osten allgemein und Palmyra im Besonderen ein ganzes Forscherleben gewidmet haben. Veynes Einsichten waren deshalb die eines Außenseiters, mit allen Schwächen, aber vor allem auch den Stärken, die Außenseitertum mit sich bringt, wenn es sich mit profunder Bildung paart. Gleichsam auf der anderen Seite des Zauns stehen Annie Sartre-Fauriat und Maurice Sartre, ein Forscherehepaar, das gemeinsam ein ganzes Jahrhundert der Erforschung des antiken Syrien und seiner Zivilisationen, vom Hellenismus bis zur Spätantike, gewidmet hat. Mit Veynes Buch gehen die Althistoriker Sartre-Fauriat und Satre hart ins Gericht, so hart, dass der "Figaro" (29.05.2016) bereits von einer neuen Schlacht um Palmyra ("l'autre bataille de Palmyre") getitelt hat. Tatsächlich: Passagen des Bandes lesen sich wie eine Abrechnung mit Veyne, dem die Sartres vorwerfen, von keiner tieferen Kenntnis beleckt zu sein - und dem sie damit in letzter Konsequenz die Legitimität absprechen, über einen so hermetischen Gegenstand wie Palmyra zu schreiben. Die Kritik, so sachlich richtig sie in vielen Punkten sein mag, ist doch ungerecht: Aus Veynes Vogelperspektive sind manche Facetten der Oasenstadt sichtbar geworden, die jahrzehntelanger Detailarbeit bis dato verborgen geblieben sind. Und gerade die hermetische Einhegung Palmyras als Gärtchen einiger weniger Spezialisten hat der Erkenntnis in der Summe mehr geschadet als genutzt.
Nimmt das dem Palmyra-Buch des Ehepaares Sartre nun seinerseits die Legitimität? Keineswegs, denn hier schreiben intelligente Historiker, die, alles andere als Weisenknaben in der Kunst rhetorischer Zuspitzung, mit der profunden Fachkenntnis der Insider so manches schiefe Urteil über Palmyra geraderücken. Dass sie das fast durchgängig augenzwinkernd tun und mit dem Florett feiner Ironie eher als mit dem Holzhammer grober Polemik, adelt sie und zeichnet sie aus als das, was sie natürlich sind: Platzhirsche auf dem Feld der antiken Syrien-Forschung, auf einem Feld also, auf dem nur Vertreter der alten Mandatsmacht Frankreich überhaupt Platzhirsche sein können. Wer die gut 250 Seiten eleganter, auch für Absolventen des deutschen humanistischen Gymnasiums gut zu bewältigender Prosa gelesen hat, weiß nicht nur mehr über Palmyra, er weiß auch, warum es sich lohnt, etwas über Palmyra zu wissen.
Die Dramaturgie der Darstellung ist bestechend: In 29 kurzen Kapiteln präsentieren die Sartres jeweils eine vermeintliche Gewissheit (légende) über Palmyra, um sie dann nach allen Regeln der Kunst mit den Fakten (vérités) zu konfrontieren. Dass etliche der Zitate, in denen die Sartres auf ihrer Suche nach légendes fündig werden, aus der Feder Paul Veynes stammen, braucht hier nicht eigens betont zu werden. Viele der von den Verfassern aufgespießten Pseudogewissheiten sind scheinbar rein pragmatischer Natur: etwa die Frage, ob Palmyra planlos gewuchert oder systematisch gewachsen ist (den Sartres gelingt es leicht, unter Verweis auf das auf orthogonalem Raster angelegten nördlichen Stadtviertels stadtplanerischen Gestaltungswillen zu belegen); oder der Satz, mit Palmyra sei es nach Zenobias Ende ebenfalls aus gewesen (hier nehmen die Sartres den Leser mit auf eine Reise in die Stadtgeschichte, die bis tief in die islamische Zeit führt).
Andere Kapitel berühren unmittelbarer Grundfragen, in denen vor allem Maurice Sartre seit vielen Jahren klar Position bezogen hat: die Frage der cité grecque etwa, die Palmyra seiner Meinung nach ohne Abstriche in der römischen Kaiserzeit war. Kein "vernis", kein Firnis, sei das Griechische in der Oase gewesen, sondern geradezu ein Strukturprinzip. Als "Honoratioren" (notables) sieht er die palmyrenischen Eliten, eingeflochten in die Institutionen einer griechischen Polis, später auch einer römischen colonia. Nein, ein Firnis sei das Griechische nicht gewesen, wohl aber konstatieren die Sartres eine "dualité des cultures" (100), bezeichnen die Oasengesellschaft gar als "societé multiculturelle" (103).
In der Begrifflichkeit zeigt sich, nicht nur hier, eine tief sitzende Skepsis gegenüber theoretischer Modellbildung, wie sie Veynes gesamtes Werk und im Kern auch seine Auseinandersetzung mit Palmyra kennzeichnet. Sartre-Fauriat und Sartre schöpfen ihr Wissen aus den Quellen, die sie souveränst überblicken. Hin und wieder erliegen sie aber bei der Deutung hermeneutischen Zirkeln, wie im Fall der cité grecque, weil sie nicht akzeptieren, dass man die Zeugnisse auch vor einer anderen Folie lesen kann. Ein Lieferant solcher Folien ist Veyne, dem es aber, wie die Sartres zu recht kritisieren, hier und da an Detailwissen mangelt.
So ist man versucht, will man beiden Palmyra-Büchern gerecht werden, den Werktitel eines anderen Altmeisters, Charles Dickens, abzuwandeln: Two tales of two cities. Wer beide Bände direkt hintereinander liest, könnte über weite Strecken wirklich meinen, Veyne und die Sartres schrieben über zwei grundverschiedene Städte. Und das ist auch gut so, möchte man hinzufügen. Es zeigt, wie grundverschiedene Methoden sich aus unterschiedlichen Geschichtsbildern speisen - und wieder neue Varianten des historischen Gedächtnisses erzeugen. Das Buch der Sartres ist die nachgerade ideale Ergänzung des Veyne'schen Opusculum. Wer einen tiefen Einblick in den Werkzeugkasten des Historikers tun will, dem sei dringend geraten, sich beide Palmyra-Erzählungen zu Gemüte zu führen und dann selbst zu urteilen.
Anmerkung:
[1] Paul Veyne: Palmyra. Requiem für eine Stadt, München 2016 (frz.: Palmyre. L'irremplaçable trésor, Paris 2015). Vgl. die Rezension in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 6; URL: http://www.sehepunkte.de/2016/06/28661.html
Michael Sommer