Ulrike Lorenz / Beatrice von Bormann / Roger Diederen (Hgg.): Mythos Welt. Otto Dix und Max Beckmann, München: Hirmer 2013, 248 S., 219 Farb-, 67 s/w-Abb., ISBN 978-3-7774-2009-7, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Ulrike Lorenz: Otto Dix. Welt & Sinnlichkeit, Regensburg: Stiftung Kunstforum Ostdeutsche Galerie 2005
Roger Diederen / Christoph Kürzeder (Hgg.): Mit Leib und Seele. Münchner Rokoko von Asam bis Günther, München: Sieveking-Verlag 2014
Roger Diederen / Laurence des Cars (Hgg.): Gut Wahr Schön. Meisterwerke des Pariser Salons aus dem Musée d'Orsay, München: Hirmer 2017
Eine erstaunliche Premiere: Den Künstlern Otto Dix und Max Beckmann, Großkaliber im Ausstellungsbetrieb rund um die klassische Moderne, wurde im Jahr 2013 erstmals eine gemeinsame Ausstellung gewidmet. Unter dem Titel "Dix / Beckmann - Mythos Welt" kamen großartige Gemälde- und Grafikarbeiten aus internationalen Sammlungen zusammen - mit dem Ziel, neue Blickwinkel auf die jeweiligen Bilderwelten dieser Meister zu ermöglichen. Ein Unternehmen, an das sich die Kunsthalle Mannheim in Kooperation mit der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung München gewagt hat, konzipiert und umgesetzt von der Dix-Expertin und Mannheimer Direktorin, Ulrike Lorenz, sowie der Beckmann-Spezialistin Beatrice von Bormann. Erstmals treten die beiden "Komplementärfiguren" (6), die sich zu Lebzeiten wohl nie getroffen haben, im musealen Raum in einen längst fälligen Dialog.
Als zentrales Thema versprechen die Kuratoren und Kuratorinnen, gemeinsam mit dem Münchner Direktor Roger Diederen, die Polarität von "erlebter Realität" und "bildnerische[r] Imaginationskraft" mit dem "begrifflichen Widerspruchspaar" (7) Mythos und Welt zu ergründen. Dieser Versuch wird in vier Schwerpunktessays unternommen. Der anschließende Katalogteil ist in sieben Kapitel gegliedert, die Werkgruppen thematisch und chronologisch zusammenfassen. Eine Synopse, welche die beiden Biografien mit zeithistorischen Ereignissen parallelisiert, bildet den Abschluss des Bandes. Der Katalog folgt insgesamt einer klaren Struktur und verfügt über einen reichen Abbildungsapparat von hervorragender Qualität.
Der Aufsatz "Dix und Beckmann - Welterkenntnis versus Weltüberwindung" von Birgit und Michael V. Schwarz leitet präzise in die Thematik ein. Indem sie Leben und Wirken von Dix und Beckmann im historischen Kontext nachzeichnen, werden die grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich. [1] Beatrice von Bormanns Text "Mythen der Gegenwart - Beckmanns Konstruktionen von 'Wirklichkeit'" untersucht Beckmanns Verständnis von Realität. Die Autorin stellt den Einfluss von einzelnen Filmen, Fotografien und literarischen Texten in den Mittelpunkt und betont das durch die damaligen neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse veränderte Verständnis der menschlichen Existenz.
Die künstlerische Beschäftigung mit der Wirklichkeit findet ihre Fortsetzung im Essay von Ulrike Lorenz "Zwischen Verismus und Allegorie - Spurensuche im Werk von Dix". Anhand klug gewählter und erhellender Einblicke in Werkprozesse erörtert Lorenz, inwieweit Dix' Realismus Konstruktion sei. "Zur Dialektik des Verismus gehört, dass Über-Präzision Ent-Realisierung bedeutet" (40), heißt es hier und sucht damit Dix' Kunst im Allegorischen zu verorten.
Abschließend thematisiert Volker Gebhardt die Rezeption nordalpiner Kunst mit "Beckmann und Dix - Propheten einer deutschen Moderne?". Wenn der Autor aber schreibt, bei Beckmann sei das "kulturelle Gedächtnis der 'gotischen' deutschen Kunst [...] immer abrufbar" (47), scheint dieser enge Blick auf das so differenzierte Werk aber eher spekulativ. In Zeiten von (Post) Global Art die Rolle einer wie auch immer gearteten "Nationalkunst" herauszustellen, ist anachronistisch.
Was kann diese Gegenüberstellung von Dix und Beckmann also Neues sagen? Ihr größter gemeinsamer Nenner ist die zeitgenössische Wirklichkeit als Entstehungshintergrund ihrer individuellen Bildkonzepte. Von dieser Prämisse ausgehend, wünscht sich der Leser jedoch eine tiefer gehende bildtheoretische Auseinandersetzung, die über die in Bormann und Lorenz' Texten formulierten Thesen hinausgeht. Die Autoren und Autorinnen gehen zwar kompetent sichere Pfade, erstaunlicherweise bleibt jedoch im Unklaren, was es mit dem verbindenden Titel "Mythos Welt" auf sich hat. Weder formal, inhaltlich noch begrifflich wird ein systematischer Zugang probiert. Der Titel "Mythos Welt" soll offenbar als tertium comparationis dienen, um die unterschiedliche Wirklichkeitsaneignung Dix' und Beckmanns vergleichbar zu machen, bleibt aber unpräzise.
Dix' und Beckmanns Lebenswelt ist bekanntermaßen geprägt durch die rasante Änderung der Mediennutzung und -verbreitung, vor allem durch Fotografie und Film. So wie wir in der Gegenwart von einer neuen Art multimedialer Berichterstattung aus Kriegs- und Krisengebieten umgeben sind, so haben die Bilder des 1. Weltkriegs die Zeitgenossen in ihrer Wahrnehmung zutiefst beeindruckt. Eine bis dahin nicht da gewesene Präsenz dokumentarischer Medien war zum Teil einer neuen visuellen Welt und des kulturellen Gedächtnisses geworden. Die Texte des Kataloges eint der Versuch, zu ergründen, wie sich die Künstler mit der Wirklichkeit auseinandergesetzt haben und wie sie über den Begriff der Realität reflektieren.
Dix und Beckmann sind so etabliert in der Kunstgeschichte, dass sie eine unkonventionellere Herangehensweise, gerade im Format einer Ausstellung, verkraftet hätten. Doch statt etwa genauer darzustellen, wie die Konkurrenzmedien in die künstlerische Gestaltung der beiden Maler reichen, dienen Fotografien den Künstlern hier nur als 'Gedächtnisstütze' und 'Inspiration'. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Hinweise auf wichtige Filme - etwa Eisensteins "Panzerkreuzer Potemkin" (1925) oder Ruttmanns "Die Sinfonie der Großstadt" (1927) sowie Ausstellungen wie "Film und Foto" in Stuttgart (1929) - gänzlich in der Synopse des Kataloges fehlen.
Wir wissen inzwischen, dass es eben nicht die Aufgabe der Fotografie war, nur als bessere Vorlage für das Gemälde zu dienen, dass sie viel mehr als ein veristisches Abziehbild der Wirklichkeit ist. Es ist ein schöner Zufall, dass die Kunsthalle Mannheim Heimat von Manets "Die Erschießung des Kaisers Maximilian" (1868-69) ist; eben jenem ersten Schlüsselbild eines modernen Realismus', der fotografische Unmittelbarkeit im Medium der Malerei thematisiert und so Zeitgeschehen mit neuen ästhetischen Mitteln reflektiert.
Sowohl Dix als auch Beckmann haben sich intensiv mit dem Medium der Fotografie auseinandergesetzt [2], eine Verbindung läge hier also auf der Hand. Es sei nur an das Ausschnitthafte in vielen Werken Beckmanns erinnert, das so offensichtlich dem fotografischen Blick geschuldet ist. Oder die vielfältigen fotografischen Porträts, die Dix von Hugo Erfurth machen ließ und die sich der Maler sogar als Ölpigmentabzug hat herstellen lassen; ein Aspekt übrigens, der die Diskussion um den Materialitätsdiskurs seiner Öl-Tempera-Schichtenmalerei beflügeln könnte. Die offenkundige Wechselwirkung geht weit darüber hinaus, die Fototechnik als 'Hilfsmittel' abzutun und die längst hinfällige Hierarchisierung der Gattungen erneut durchzudeklinieren. Von einem Katalog dieser Größe hätte man sich bei der zweifelsfrei exzellenten Umsetzung mehr redaktionellen Mut gewünscht.
Der Versuch, die Künstlerleben in ihrer historischen, künstlerischen und biografischen Breite abzubilden, ist eine enorme Herausforderung, die dennoch weitgehend gelungen ist. Die Ausstellung zeigt einmal mehr, dass das im Vordergrund stehende künstlerische Individuum in einem Zeitraum verstärkter historischer Reflexion arbeitet. Der "Mythos Welt" mag daher schließlich eine Übersetzung des Sichtbaren und die damit verbundene Selbstreferenzialität des Werkes in der Kunst der Moderne bedeuten; besonders wenn davon auszugehen ist, dass Bilder Modelle eines kulturellen Wissens sind. Durch die spannende Zusammensetzung der Bilder von Dix und Beckmann und die deutenden Essays wird in diesem Sinne nachvollziehbar, wie erlebte Geschichte in Zeit- und Kunstgeschichte übergeht.
Anmerkungen:
[1] Hier sei auf die Rezension zur Ausstellung verwiesen, siehe: Andreas Strobl: Neues von und zu Otto Dix - und eine Konfrontation mit Max Beckmann, in: Kunstchronik 67 (2014), H. 5, 231-241.
[2] Vgl. u.a.: Nina Peter: Déjà vu. Die Bildquellen der Landschaften von Max Beckmann, in: Ortrud Westheider: Max Beckmann. Landschaft als Fremde, Ausst. Kat. Hamburg 1998, 45-56; Dietrich Schubert: 'Ein harter Mann, dieser Maler...' Otto Dix - photographiert von Hugo Erfurth, in: Bodo von Dewitz: Hugo Erfurth 1874-1948. Photograph zwischen Tradition und Moderne, Köln 1992, 86-96; Paloma Alarcó / Andreas Strobl: Otto Dix. Retrato de Hugo Erfurth - técnicas y secretos, Madrid 2008.
Franziska Lampe