Rudolf Koella / Bettina von Meyenburg-Campell: Augenzeugin der Moderne 1945-1975. Maria Netter Kunstkritikerin und Fotografin, Basel: Schwabe 2015, 276 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7965-3487-4, EUR 48,00
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Ihren schriftlichen Nachlass vermachte Maria Netter der Basler Universitätsbibliothek, der fotografische ging an die Schweizerische Stiftung für Photographie und befindet sich seit 2013 als Dauerleihgabe beim Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft (SIK-ISEA) in Zürich. Auf dessen Internetseite stehen derzeit sieben Aufnahmen der Fotografin, aber weder Texte noch Bibliografie. [1] Bettina von Meyenburg-Campell sichtete etwa 20.000 Negative (überwiegend Schwarz-Weiß, selten Farbe), Kontaktkopien sowie Fotoabzüge und identifizierte, unterstützt durch Harald Szeemann, die abgebildeten Personen, um den bedeutenden Bildbestand für die Forschung nutzbar zu machen. Es geht um den Siegeszug der internationalen modernen Kunst nach 1945, zu dem nicht zuletzt die documenta beitrug und mit Künstlern wie Joseph Beuys im Buch vertreten ist. Die Einführung von Bettina von Meyenburg-Campell und Rudolf Koella, von denen auch die Bildkommentare stammen, liest sich wie ein Who's who? vor allem des Schweizer Kunstbetriebs, der offensichtlich die Bildauswahl bestimmte; hilfreich ist das Personenregister im Anhang.
Maria Wilhelmine Charlotte Netter, geboren 20. April 1917 in Berlin, gestorben am 11. Dezember 1982 in Basel, stammte aus einer angesehenen, wohlhabenden jüdischen Familie und konvertierte 1934 zum evangelischen Glauben. Geprägt durch die aufgeklärten Zwanzigerjahre, verkörperte sie auch in ihrem persönlichen Erscheinungsbild mit androgyner Kurzhaarfrisur und streng wirkender Kleidung bis zum Ende ihres Lebens den Typus der modernen Frau. Nach dem Abitur 1936 verließ Maria Netter der politischen Entwicklung wegen Berlin, um in Basel bei Karl Barth Theologie zu studieren. Das Nebenfach Kunstgeschichte wurde nach fünf Semestern zum Hauptfach, abgeschlossen 1943 mit einer Promotion bei Joseph Gantner, einem Schüler von Heinrich Wölfflin. Durch Georg Schmidt, der sich seit 1939 als Direktor des Kunstmuseums Basel für den Ankauf sogenannter entarteter Kunst aus Deutschland einsetzte und mit dem Aufbau einer internationalen Sammlung begann, lernte Maria Netter früh die Moderne kennen; 1944 berief er sie als seine persönliche Assistentin.
Bereits als Studentin begann sie zu fotografieren und zu schreiben; im Lauf der Jahre für Schweizer Zeitungen wie die Basler Nationalzeitung oder Die Weltwoche und Zeitschriften wie Das Werk, Graphis oder Schweizer Monatshefte. Ohne die bis heute, fehlender historischer Legitimation halber zu beobachtende Scheu der akademischen Kunstgeschichte angesichts aktueller Kunst, betrieb Maria Netter enthusiastisch "Kunstkritik an vorderster Front" (31), mit einem eigenständigen Urteil in einer "herausfordernden Art" (11). Dazu gehörten bereits in den 1950er-Jahren Berichte über die Moderne in den USA sowie in den 1960ern, nach anfänglicher Ablehnung, auch über Pop Art und Minimal Art. Hinzu kam das Engagement für die moderne Plastik. Es ging um das unmittelbare Interesse an der Kunst sowie an den Künstlerinnen und Künstlern, Sammlerinnen und Sammlern, Ausstellungsmachern und Galeristen. Maria Netter suchte das Gespräch und begleitete die Arbeit von Künstlern über längere Zeit; vorzugsweise Hans Arp, Marino Marini, Marc Chagall, Alberto Giacometti, Serge Poliakoff, Alexander Calder, Eduardo Chillida, Walter Bodmer, Robert Müller, Bernhard Luginbühl, Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle.
Die Betonung des Anteils des Betrachtenden und der Zeitgebundenheit wirkt wie ein Vorgriff auf die Ende der 1960er-Jahre entwickelte Rezeptionsästhetik sowie die Einbindung von Kunst in gesellschaftliche Zusammenhänge, wenn Maria Netter bereits 1946 schreibt: "Gerade die Qualität, diese geheimnisvolle letzte Instanz bei der Beurteilung von Kunstwerken, ist keine absolute Grösse [sic!], sondern nur durch die jeweils gegebenen individuellen und allgemeinen Ansprüche und Möglichkeiten der Zeit zu bestimmen." (32) Die Werke werden mit einer lebendigen, selbst poetisch bildhaften Sprache gewürdigt: "Chagall singt sein Lied nie zu Ende. Es ist an uns, seine Bilder zu vollenden." (126) Die Anschaulichkeit und Leichtigkeit des auf profundem Wissen und journalistischer Erfahrung basierenden Stils sollte jedoch nicht mit Theorielosigkeit verwechselt werden. Wie nebenbei werden kulturgeschichtliche Bezüge hergestellt: "Illustre Ahnen haben diese dekorativen Damen: Picassos Riesenweiber der dreissiger [sic!] Jahre, Légers mächtige Figuren, Fruchtbarkeitsidole aller Art (insbesondere aber der südamerikanischen Volkskunst) und nicht zuletzt auch einige Kernsätze aus Papa Freuds Psychoanalyse. Aus all diesem 'Erbgut' hat Niki [de Saint Phalle], naiv und sophisticated wie sie ist, ihre tanzenden, sitzenden 'Nanas' gemacht." (165-166)
Maria Netter kam während ihres Studiums als Autodidaktin zur Fotografie, die seit 1925 durch die Marktreife der Kleinbildkamera Leica I (A) zu einem zeitgemäßen Medium gerade auch für die sogenannte Neue Frau geworden war. Seit Beginn ihrer Tätigkeit als Kunstkritikerin 1944 war sie stets mit der Kamera unterwegs und bestand auf der Namensnennung bei Veröffentlichungen (12). Die Bilder sind von einem geschulten Auge gesehene, entscheidende Augenblicke. Die fotografische Sicht entspricht der 'Bildsprache' der 1950er-Jahre (Life-Fotografie), in denen die seit 1954 angebotene Leica M3 mit ihrem lichtstarken Objektiv Momentaufnahmen ohne Blitzlicht erlaubte. Henri Cartier-Bresson, von dem Maria Netter Originalabzüge besaß (110), prägte 1952 die Formel des 'moment décisif'.
Programmatische Selbstporträts mit der Kamera werden im Buch nur in, dem Layout untergeordneten Ausschnitten auf Doppelseiten mit eingefügten Kapitelüberschriften gezeigt. Die für den Bildaufbau und die Interpretation zentralen selbstreflexiven Spiegelungen belegen eine Vertrautheit mit der Geschichte des sich seit den 1920er-Jahren neu definierenden Mediums. Die Bildauswahl im Buch ist von der Bedeutung der abgebildeten Personen und künstlerischen Werken bestimmt, als deren "Zeitzeugin" (15) die Fotografin und deren Verhältnis zur Geschichte der Fotografie summarisch mit der Nennung bekannter Namen auf knappen fünf Seiten abgehandelt wird. Problematisch sind die teils erzählerischen Bildunterschriften mit ihrer Betonung des 'human interest', wenn beispielsweise Alberto Giacometti "begrüsst" (sic! 135), Serge Poliakoff "lauscht" (136), Samuel Beckett "posiert" (181), obwohl auf diesen Aufnahmen tatsächlich etwas anderes zu sehen ist: das Verhalten (auch die Distanz) der Personen zueinander, im Raum und zu den Kunstwerken.
Das Museum Tinguely in Basel widmete Maria Netter 2015/16 parallel zum Erscheinen des Buches Augenzeugin der Moderne 1945-1975 eine Ausstellung mit etwa 100 Bildern. [2] Die Wiederentdeckung dieser Persönlichkeit der Kunstszene ist verdienstvoll, weil damit der wichtige Anteil von Frauen an der Kunstgeschichte deutlich wird. Allerdings werden Leben und Werk zu sehr einer auf illustre Persönlichkeiten des Kunstbetriebs fixierten Orientierung untergeordnet. Wünschenswert wäre, die Texte von Maria Netter nicht nur auszugsweise als, manchmal auch größere Zitate in den Fließtext einzuflechten, vielmehr durch die faksimilierte Wiedergabe ausgewählter Veröffentlichungen die gesamte Argumentationsweise mitsamt der Bildauswahl nachvollziehbar zu machen. Nicht einmal eine Publikationsliste findet sich im Anhang, stattdessen wird das publizistische Werk unter 'schrieb für' zusammengefasst. Auch das fotografische Werk hätte in der Qualität des einzelnen Bildes eine detaillierte Analyse und einen kontrastreicheren, nicht so flau wirkenden Druck der von Samuel Schlegel digitalisierten und retuschierten Negative verdient.
Anmerkungen:
[1] Siehe http://www.sik-isea.ch/fr-ch/Archives-de-lart-biblioth%C3%A8que/Archives-de-lart/Fonds-darchives/Vitrines-virtuelles/Nachlass-Maria-Netter, 22.06.2016.
[2] Siehe http://www.tinguely.ch/de/ausstellungen_events/ausstellungen/2015/MariaNetter.html, 09.06.2016.
Gabriele Betancourt Nuñez