Susanna Schrafstetter: Flucht und Versteck. Untergetauchte Juden in München - Verfolgungserfahrung und Nachkriegsalltag, Göttingen: Wallstein 2015, 336 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1736-9, EUR 38,00
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Mit dieser umfassenden regionalgeschichtlichen Studie über Verfolgungserfahrungen untergetauchter Juden in München und dem Großraum der Bayernmetropole leistet die Historikerin Susanna Schrafstetter einen bedeutenden Beitrag zur Frage nach den Überlebenschancen von Juden in Deutschland in den Jahren nach Beginn der reichsweiten Deportationen im Herbst 1941 bis zum Kriegsende. Die Hilfeleistungen nichtjüdischer Helfer sind ebenso Gegenstand der Untersuchung. Zu Recht weist sie darauf hin, dass in einschlägigen Publikationen bisher Berlin im Vordergrund gestanden hat, wo 1941 die größte jüdische Bevölkerungsgruppe lebte und die meisten Fluchten vor der Deportation gewagt wurden. [1] Einleitend hinterfragt die Autorin den Begriff "Rettungswiderstand", der sich inzwischen etabliert habe [2], und gibt zu bedenken, dass die Beschäftigung mit dem Leben im Untergrund und den nichtjüdischen Helfern eine ganze Bandbreite menschlichen Handelns zeige, die nicht allgemein unter diesem Begriff subsumiert werden könne (17-20). Tatsächlich wirkt die Bezeichnung "Rettungswiderstand" allzu plakativ, andererseits ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass Rettungsversuche angesichts des Massenmords als extrem wichtige Form widerständigen Handelns zu betrachten sind. [3]
Der erste Teil behandelt die Verfolgungsgeschichte von 1933-1942 in der "Hauptstadt der Bewegung", wo Juden lange vor 1933 antisemitische Ausgrenzung und Gewalttaten erlitten. Trotz einzelner Hilfeleistungen für jüdische Männer im Novemberpogrom 1938 könne keineswegs auf weitreichende Solidarität geschlossen werden. In der rapiden Umsetzung der Verfolgungsmaßnahmen habe München durch das reibungslose Zusammenspiel von Gauleitung, "Arisierungsstelle" (Koordinationszentrale jüdischer Zwangsarbeit und später der Deportationen) sowie der Gestapo eine Vorreiterrolle gespielt (43). Dies gelte auch in Bezug auf die Ghettoisierung. Bis November 1941 wurden in den Sammellagern Berg-am-Laim und Milbertshofen 3.240 jüdische Münchner konzentriert, die seit 1939 in sogenannten Judenhäusern gelebt hatten. Erste Fluchten in die Illegalität werden schon im Zusammenhang mit der ersten Massendeportation am 3. November 1941 (999 Menschen) festgestellt, denen bis August 1942 weitere folgten. Für diesen Zeitraum lassen sich insgesamt 21 Fälle eindeutig nachweisen. Hinzu komme eine Dunkelziffer von Fluchten in die Schweiz mit Unterstützung christlicher Helfer (57). Acht Fluchtschicksale aus dieser Phase sowie die Verbindungen zu den jeweiligen Helfern werden eindrucksvoll rekonstruiert.
Die vorerst letzte größere Münchner Deportation von 220 Menschen am 23. März 1943 löste dagegen keine Fluchtbewegung aus, während in Berlin, wo noch tausende Zwangsarbeiter in Rüstungsbetrieben im Einsatz waren, im Zuge der sogenannten Fabrik-Aktion am 28. Februar 1943 rund 4.000 Personen untertauchten und mehr als 7.000 Anfang März nach Auschwitz deportiert wurden. [4] Aufschlussreich in diesem Kontext ist Schrafstetters Hinweis, dass in München die Beschäftigung von Juden in kriegswichtigen Betrieben eher gering war. Typisch für München (und andere Städte) ist, dass erst im Februar 1945, vor der letzten Deportation nach Theresienstadt, eine größere Zahl (50 bis 100 Personen) in ein Versteck floh (111).
Gegen Ende des Krieges habe es wohl mehr Hilfsbereitschaft gegeben, zuweilen allerdings auch aus taktischem Kalkül. Der Verfolgungsdruck habe nicht nachgelassen: Die Einweisung nach Dachau und Ermordung stellte für jene Juden, die im Winter 1945 untertauchten, eine konkrete Bedrohung dar. Inwieweit zu diesem Zeitpunkt die Deportation noch eine Priorität der jeweiligen Gestapostellen blieb, sei noch zu untersuchen (126).
Insgesamt war in München das Verhältnis von erfolgreichen und entdeckten Untergetauchten günstiger als in Berlin, wobei dieser Vergleich wohl schwer zu ziehen ist. Neben Gefahrenquellen wie den "Judenfledderern" und eigennützigen, unzuverlässigen Helfern war die Denunziation aus der Bevölkerung eine besondere Bedrohung gewesen (157). Bezüglich misslungener Rettungsversuche und deren Konsequenzen werden neben bereits publizierten Fällen auch bisher unbekannte komplexe Flucht- und Hilfsgeschichten rekonstruiert.
Wie schwierig es ist, einzelne Rettungen einem bestimmten Ort zuzuordnen, zeigen Beispiele geografischer Mobilität von Geflüchteten wie die Geschichte der Berliner Schwestern Andrea und Valerie Wolffenstein (184-185). Auch für Helfer kirchlicher Kreise wurden ab 1941, nach dem Verbot der Betreuungsstellen für "nichtarische" Christen, überregionale Verbindungen immer wichtiger. Allerdings gingen nur wenige Würdenträger beider großer Kirchen diesen Weg (172). Annemarie und Rudolf Cohen von den Quäkern jedoch setzten ihre Hilfe für Verfolgte in Kooperation mit Else Behrend-Rosenfeld, der jüdischen Leiterin des Lagers Berg-am-Laim, fort und vermittelten dieser schließlich eine Berliner Adresse für ihre Flucht.
Verdienstvoll ist, dass die Studie nicht mit der "Befreiung" endet, sondern auch die schwierige Nachkriegszeit beleuchtet. In diesem Kontext werden die gesundheitlichen Langzeitfolgen wie Nervenleiden und schwere Depressionen thematisiert, unter denen nicht nur Lagerüberlebende, sondern auch Untergetauchte litten (221). Auch manche Helfer fanden nur schwer in den Nachkriegsalltag zurück. Diese Problematiken werden allerdings nur angerissen und regen zu weiterer Forschung an.
Das letzte Kapitel schlägt den Bogen von der Entschädigungsproblematik zur Erinnerungspolitik. Mit den Wiedergutmachungsregelungen von 1951 waren die Untergetauchten gegenüber Überlebenden von Lagern rechtlich schlechter gestellt, da "Schaden an Freiheit" nur im Falle von (politischer) Haft anerkannt wurde. Erst mit dem Bundesergänzungsgesetz 1953 wurde auch "Illegalität" als entschädigungswürdig anerkannt, aber nur, wenn "haftähnliche" und "menschenunwürdige Bedingungen" nachgewiesen werden konnten. Dies führte in München (anders als in Berlin) oft zu absurden und zutiefst kränkenden Ablehnungsbescheiden. Für die Helfer galt, wie überall in der Bundesrepublik, dass sie für ihren Einsatz nur dann entschädigt wurden, wenn er mit Freiheitsentzug geahndet worden war. Der Appell des Vorsitzenden Zentralrats der Juden in Deutschland von 1966, eine Ehrungsinitiative nach dem Beispiel (West-)Berlins ins Leben zu rufen [5], wurde auch in München nicht aufgegriffen. Doch im Rahmen der Initiative "München leuchtet" kam es zur Anerkennung von Hilfeleistungen. Als erste deutsche Stadt realisierte die Bayernmetropole 1961 ein Besucherprogramm für ehemalige jüdische Einwohner, wobei in der zu diesem Anlass entstandenen Publikation ein geschöntes Image der Hilfsbereitschaft der Münchner gezeichnet wurde. Bis Anfang der 1990er-Jahre klafften "Selbstdarstellung und Rückbesinnung auf das Geschehene" auseinander (286).
Schrafstetters höchst anregende Studie schließt eine wichtige Lücke, was das Wissen über die Flucht vor der drohenden Deportation in München und Umgebung betrifft. Auf der Basis des bisherigen Forschungsstandes und der Analyse einer Vielfalt von Quellen leistet sie sowohl einen wichtigen Beitrag zur Sozialgeschichte der deutschen Juden während des Holocaust als auch zur Nachkriegsgeschichte der versteckt Überlebenden und zum Umgang mit Verfolgung und Verfolgten nach 1945.
Anmerkungen:
[1] Wolfgang Benz (Hg.): Überleben im Dritten Reich. Juden im Untergrund und ihre Helfer, München 2003.
[2] Arno Lustiger: Rettungswiderstand. Über die Judenretter in Europa während der NS-Zeit, Göttingen 2011.
[3] Ebd.
[4] Johannes Tuchel: Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Berlin, in: Berlin 1933-1945, hgg. v. Michael Wildt / Christoph Kreutzmüller, München 2013, 193-209, hier 208.
[5] Dennis Riffel: Unbesungene Helden. Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007.
Beate Kosmala