Alexander Linke: Typologie in der Frühen Neuzeit. Genese und Semantik heilsgeschichtlicher Bildprogramme von der Cappella Sistina (1480) bis San Giovanni Laterano (1650) (= Reimer. Bild + Bild; Bd. 3), Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2014, 410 S., 187 Abb., ISBN 978-3-496-01474-4, EUR 79,00
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Der Begriff "Typologie" beruht auf den biblischen Wörtern "typos" und "antitypos" im Sinne von Vorbild und Gegenbild, Vorprägung und Ausprägung. Als Denkform hat die Typologie ihren Ursprung in der Bibelexegese. Erwachsen aus dem Bedürfnis der frühchristlichen Gemeinde, die heiligen Schriften des Judentums für die eigene Religion zu bewahren, verknüpften die Exegeten Altes und Neues Testament so, dass sie ihr Verhältnis als Vor- und Ausprägung sahen. Aufgrund bestimmter Analogien setzte man ein typisches, d.h. vor-bildliches Vergangenes (typos), Personen oder Ereignisse aus dem Alten Testament, in eine Beziehung mit solchen aus dem Neuen Testament, sodass mit dem Gegenbild (antitypos) zugleich eine Erfüllung und Vollendung stattfand. Diese Verknüpfungstechnik, in der zwei Größen in einer Ähnlichkeitsrelation, zugleich aber auch in einem Steigerungsverhältnis stehen, erlaubte es, das gesamte Heilsgeschehen als Netz von Beziehungen zu fassen, zu gliedern und damit ein kontinuierliches Heilshandeln Gottes zu begründen.
In seinen 1977 erschienenen "Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung" hat der Mediävist Friedrich Ohly gezeigt, wie sich aus dem Modell der biblischen Typologie im Mittelalter nicht nur eine halbbiblische und eine außerbiblische Typologie entwickelt hat, sondern auch eine Denkform der Geschichtsbetrachtung mit der zugrundeliegenden Vorstellung, dass bestimmte historische Ereignisse Vorbilder sind für die Erscheinungsform kommender Ereignisse, in denen sich das Urereignis erfüllt. Er zeigte, dass sich die europäische Dichtung und bildende Kunst vom frühen Mittelalter bis in die Neuzeit die typologische Denkform mit dem ihr innewohnenden Prinzip der steigernden bedeutungsvollen Wiederholung als Möglichkeit zu eigen machte, eine Zusammenschau des in der Zeit Getrennten vorzunehmen und dabei vielfältige Formen der Darstellung ausbildete.
Der 1988 von Volker Bohn herausgegebene Band "Typologie" bot erstmals einen Überblick über die internationale Forschungslage und dokumentierte auch das Fortwirken der Typologie in Literatur, Kunst, Geschichte, Theologie und Politik der Neuzeit. Ziel war es, auf die geistesgeschichtliche Relevanz der interdisziplinären Erforschung dieser "Denkstruktur von welthistorischer Tragweite" aufmerksam zu machen, insbesondere Ohly forderte dazu auf, das "beziehungslose Nebeneinander der Kunst- und Literaturgeschichte auf der einen und der Geschichtswissenschaft auf der anderen Seite" zu überwinden, da "die europäische Tradition der Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung doch allen Kunst- und Geisteswissenschaften aufgegeben bleibt." (45f.)
Der Kunsthistoriker Alexander Linke hat mit seinem 2014 veröffentlichten Buch "Typologie in der Frühen Neuzeit" einen wichtigen Baustein zu diesen Desideraten geliefert. Er untersucht die Erscheinungsform und die Wirkungsgeschichte der Typologie in der Frühen Neuzeit am Beispiel monumentaler heilsgeschichtlicher Bildprogramme von 1480-1650. Er analysiert die Genese, Funktion, Semantik und die spezifischen Strukturprinzipien dieser Bildprogramme, die alle für exponierte Orte konzipiert und von hochrangigen Künstlern ausgeführt worden sind. Auch Linke entlarvt die Rede vom Ende der Typologie im Spätmittelalter als Klischee. Er zeigt, dass Typologie als Bestandteil einer christlichen Geschichtstheologie einen festen Platz im Bildungskanon der Renaissance hatte und auch in der Frühen Neuzeit ein bedeutendes Element künstlerischen Schaffens und bildtheoretischer Reflexionen war. Führende Künstler von der Frührenaissance bis zum Hochbarock haben das typologische Denk- und Bildschema in höchst kreativer Weise verwendet, modifiziert und semantisch umkodiert. Nicht nur die partielle Säkularisierung typologischer Denkmuster findet statt, auch außerbiblische Typologien, zeitgeschichtliche Analogien und Implikationen gewinnen an Bedeutung und münden im gegenreformatorischen Klima des 17. Jahrhunderts in eine kalkulierte Bildpropaganda. Kennzeichnend für die Typologie der Frühen Neuzeit sei, dass diese hier weitgehend als abstraktes Denk- und Darstellungsschema zur Verfügung steht und sich flexibel an die gewünschten inhaltlichen Schwerpunkte anpassen lasse.
In der Einleitung liefert Linke einen Überblick über die typologische Forschung und präsentiert Forschungserträge zu Darstellungsmodi typologischer Bildprogramme, darunter die Ansätze von Wolfgang Kemp und Bernd Mohnhaupt, die er für seine Analyse typologischer Historienzyklen des 16. und 17. Jahrhunderts als relevant ansieht. Linke wendet sich gegen ein in der Kunstgeschichte weit verbreitetes, inhaltlich eng gefasstes Typologieverständnis, das Typologie nur als innerbiblisches Bezugssystem versteht, als typologische Kunstwerke nur Übertragungen theologischer Vorgaben aus Bibel und Patristik in Bilder ansieht, den entwicklungsgeschichtlichen Höhepunkt um 1180 ansetzt und spätmittelalterliche Variationen im ikonografischen Bereich als Dekadenzphänomene deutet. Er kritisiert die seitens der Kunstgeschichte stattgefundene Marginalisierung der Typologie für die Frühe Neuzeit. Linke folgt explizit dem Typologieverständnis Friedrich Ohlys, der die Typologie als eine universelle Anschauungs- und Denkform vorgestellt hat, die auch halbbiblische und außerbiblische Vergleiche einschließt und auch die zunehmende Wichtigkeit zeitgeschichtlicher Bezüge im typologischen Denken der Neuzeit vorgeführt hat.
Linke bietet zunächst einen historischen Abriss. Er stellt Entstehung und Entwicklung der Typologie in der Bibel und bei den Kirchenvätern dar, präsentiert Kernthemen typologischer Kunst seit dem Frühchristentum und erläutert die Ausdifferenzierung typologischer Bilderreihen seit 1200 bis um 1600. Im Hauptteil Heilsgeschichten und programmatische Geschichtsentwürfe 1480-1650 folgt dann die Analyse der exemplarisch gewählten heilsgeschichtlichen Bildprogramme, etwa die unter den Päpsten Sixtus IV. und Julius II. entstandenen Wand- und Deckenfresken der Cappella Sistina, die von Tintoretto zwischen 1575-1581 ausgeführte Decken- und Wanddekoration der Sala superiore in der Scuola Grande di San Rocco und die von Peter Paul Rubens entworfene Gemäldefolge für die Antwerpener Jesuitenkirche. Auch weniger Bekanntes tritt ins Blickfeld: der heute nur durch Zeichnungen überlieferte Zyklus in der Galerie des cerfs des herzoglichen Palastes von Nancy (1525-29) und die im Zusammenhang mit Francesco Borrominis (1599-1667) Langhausrenovierung von 1650 entstandenen Stuckreliefs in St. Giovanni in Laterano. In einem ersten Schritt erfolgt die Rekonstruktion der Konzeption und Genese der typologischen Historienwerke. Die traditionelle Form kunsthistorischer Quellenarbeit ergänzt Linke mit einem Blick nach dem "Ungeschehenen in der Kunst", fragt, welche Ideen bei der Ausführung verworfen wurden. Auf der "Makroebene" des Bildprogramms untersucht er die narrative Ordnung, auf der "Mikroebene" die "Beachtung visueller Rekurrenzen zwischen korrespondierenden Bildern", dem Argumentationsprinzip der Typologie, das anschauliche Bezüge zwischen den Bildern als sinnstiftende Mittel einsetzt. Mit der Funktion der Werke beschäftigt er sich im Sinne einer historischen Semantik, nimmt neben der "intentionalen Konzeption und Produktion auch die werkimmanente Suggestivkraft und die interessengeleitete Rezeption der Bildprogramme in den Blick".
Abschließend befasst sich Linke mit der epochenübergreifenden Relevanz der Typologie. Ihre Attraktivität und die vielfältigen Formen ihrer Rezeption und Adaption unter wechselnden historischen Bedingungen sieht er in der strukturellen Flexibilität, Adaptionsfähigkeit, dem Operieren mit einem Vergleichsschema und dem Prinzip der Wiederholung begründet, welches komplexe Inhalte anschaulich verdeutlicht und eine verführerische Überzeugungskraft besitze. Ein Anhang mit Anmerkungen, der Transkription der Begleittexte zur Galerie des cerfs und ein Literaturverzeichnis beenden den Band.
Alexander Linkes Buch, das erstmals von kunsthistorischer Seite die Typologie in der Frühen Neuzeit anhand monumentaler Bildprogramme exemplarisch untersucht, stellt einen wegweisenden Beitrag zur Erforschung der Denkform der Typologie in der Frühen Neuzeit dar. Sein Buch dokumentiert, dass Typologie auch in der Frühen Neuzeit einen konstitutiven Bestandteil anspruchsvollen künstlerischen Schaffens bildet und das typologische Schema von Verheißung und Erfüllung, von Vorprägung und Ausprägung sowohl den Künstlern und Auftraggebern, als auch den Rezipienten bekannt und geläufig war. Seine Untersuchung zeigt, dass die Akzidenz des Einzelbildes und das neue Paradigma der Antike am Übergang zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit das auf Pluralität angelegte Bildsystem Typologie nicht verdrängt.
Ingvild Richardsen