Hans Eichel (Hg.): 60 Jahre documenta. Die lokale Geschichte einer Globalisierung, Berlin / Kassel: B&S Siebenhaar 2015, 252 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-943132-40-3, EUR 19,80
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Als am 15. Juli 1955 die erste Documenta als künstlerisches Anhängsel der Bundesgartenschau im stark kriegszerstörten Kassel eröffnet wurde, war ihr Aufstieg zur "bedeutendsten Weltausstellung der Gegenwartskunst" (15) keineswegs vorhersehbar. Gleichwohl hatte ihr Erfinder und Gründer, der visionäre und tatkräftige Arnold Bode, "an der Werkkunstschule in Kassel ausgebildet" und "nach ersten Erfolgen als Maler und Ausstellungsmacher" von "den Nazis mit einem Berufsverbot belegt" (16), bereits 1946 "an eine große internationale Kunstausstellung" (15) gedacht. So vollzog sich das "Wunder" ausgerechnet "in der nordhessischen Provinz" (18), und aus der Rückschau scheint klar warum, denn "gerade das 'Niemandsland' war dafür besser geeignet als national aufgeladene Orte." (24) Der Herausgeber des Sammelbandes zum 60. Jubiläum des vielzitierten 'Museums der 100 Tage' und Verfasser eines grundlegenden Aufsatzes seiner Geschichte ist ein ausgezeichneter Kenner der Documenta, war er doch als Kasseler Oberbürgermeister und Aufsichtsratsvorsitzender der documenta GmbH 1975-1991 selbst unmittelbar in eine schwierige Entwicklungsphase der Großausstellung involviert: Nach "Streitereien und Chaos bei der Vorbereitung der documenta 6" (20) wurde das Auswahlverfahren für die künstlerische Leitung durch die Einsetzung einer externen Findungskommission formalisiert und internationalisiert. Dass damit die Weichen für die Documenta nicht nur aus städtischer, sondern auch aus Sicht des Landes und des Bundes - und damit für alle drei, zu gleichen Teilen beteiligten Geldgeber - richtig gestellt waren, zeigte sich für Hans Eichel auch im weiteren Verlauf seiner Karriere zunächst als hessischer Ministerpräsident sowie als späterer Bundesfinanzminister. Vielleicht aber ist es erst die aktive Beteiligung am Vermittlungsprogramm der Documenta 13, als er als "Wordly Companion" - wie die Guides 2012 kurioserweise genannt wurden (164) - selbst Führungen durch die Karlsaue gab, die ihn in besonderem Maße für die Herausgabe des Jubiläumsbandes qualifiziert.
Seit Bodes erstem Ausstellungskonzept 'Kunst und Ruine' hat sich viel verändert. Bereits auf der zweiten Documenta (1959) hatte sich der Kreis der zuvor europäischen Künstler auf den nordamerikanischen Raum ausgeweitet; seit Harald Szeemanns Documenta 5 (1972) werden nicht nur Gemälde und Skulpturen, sondern auch Fotografien, Videos, Happenings und Aktionen präsentiert; seit Catherine Davids Documenta 10 (1997) lässt sich durch die Beteiligung aller Kontinente erstmals von einer Weltkunstausstellung sprechen (23) und seit Okwui Enwezors Documenta 11 (2002) findet die Weltausstellung der Kunst auch räumlich nicht mehr nur in Kassel statt, sondern in Form von Nebenschauplätzen, Diskussionsrunden oder eben "Plattformen" an allen möglichen Orten der Welt (17f.). Konsequenterweise wird die diesjährige Documenta 14 unter der Leitung von Adam Szymczyk auch nicht mehr nur 100 Tage im nordhessischen Sommer andauern, sondern sie beginnt diesmal schon im April in Athen und damit zwei Monate vor Kassel.
Die 25 Beiträge zeichnen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ein Bild von der Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Documenta und reflektieren nicht zuletzt auch ihre Bedeutung für die "documenta-Stadt Kassel" als "Gravitationszentrum des globalen documenta-Netzwerks" (28). Nach einer lesenswerten Einführung des Herausgebers zu den Anfängen und Entwicklungslinien der Documenta kommt im historischen Teil auch die Tochter Arnold Bodes mit sehr persönlichen Erinnerungen an den Vater zu Wort, denen drei Beiträge über nicht verwirklichte Ideen Bodes ("Philadelphia Transfer", "documenta urbana" und das "Herkules-Oktogon") und eine Darstellung des "Arnold-Bode-Preises" folgen. Des Weiteren geht es in Einzelbeiträgen um die von Harry Kramer begründete Künstler-Nekropole, um das Vermittlungskonzept auf den letzten drei Documentas und die Rolle der Kunsthochschule. Ein aufschlussreiches Gespräch aller künstlerischen Direktoren und Direktorinnen des Fridericianums rundet das Kapitel zum gegenwärtigen Status ab. Abschließend entwickeln weitere Autoren und Autorinnen Perspektiven für die Zukunft der Documenta, darunter der hessische Minister für Wissenschaft und Kunst, Boris Rhein, sowie Eichels amtierender Nachfolger im Amt des Oberbürgermeisters und Aufsichtsratsvorsitzenden, Bertram Hilgen, wie auch die Geschäftsführerin der Documenta, Annette Kulenkampff.
Ein besonderes Pfund des Sammelbandes aber sind unter dem Rubrum "Meine documenta" die Beiträge von allen noch lebenden künstlerischen Documenta-Leitern und -Leiterinnen, deren unterschiedliche Ausstellungskonzepte längst selbst Kunstgeschichte geschrieben haben, darunter auch das des gegenwärtigen Leiters 2017, das unter dem ambitionierten Motto "Learning from Athens" steht und zuvor "eine heftige Kontroverse ausgelöst" (249) hatte. Hans Eichels luzides Eintreten und engagierte Parteinahme für die Freiheit der Kunst "unter Achtung der Existenzprinzipien der documenta" (249) bildet damit erst die eigentliche Motivation für die Entstehung des Buches, wie die erstaunte Leserin auf der letzten Seite erfährt. Nicht von ungefähr würdigt Eichel in seinem Beitrag den besonderen Mut, dessen es offenbar zur Ausrichtung der Documenta bedarf, denn anders als bei der "eklektizistischen Biennale in Venedig mit ihren vielen nationalen Pavillons, mit ihren vielen verschiedenen Kunstauffassungen" bildet die "Verantwortung des einen Kurators / der einen Kuratorin [...] eine große Chance für die documenta, das Kunstgeschehen zu prägen. Im Falle des Scheiterns ist es allerdings auch ein enormes Risiko. Dieses Risiko ist ein Preis für die Weltgeltung der documenta. Man muss es bewusst eingehen." (22)
Die Geschichte der Documenta ist - so viel wird deutlich - nicht nur eine der Globalisierung einer lokalen periodischen Kunstausstellung, wie der Untertitel des Buches vorgibt, sondern ebenso auch eine der Professionalisierung eines amateurhaften Ausstellungsbetriebs sowie eine der touristischen Kommerzialisierung und politischen Instrumentalisierung eines Kunstevents. Dass all diese Beiträge eben nicht harmonisierend aufeinander abgestimmt sind und sich teilweise sogar in ihren Kunst-, Ausstellungs- oder Vermittlungsauffassungen widersprechen, macht die Lektüre gerade zu einem besonderen Gewinn und Vergnügen. Denn das, was Eichel im Zusammenhang mit der künstlerischen Freiheit der Documenta-Leitung notiert, gilt ebenso auch hier: Es handelt sich um "radikal subjektive" Sichtweisen (22). Ein "bekennender Kasseläner" (249) und langjähriger 'weltgewandter Begleiter' der Documenta, dem die praxiserprobte Erfahrung im Bereich kulturpolitischer Diplomatie deutlich anzumerken ist, hat damit ein geballtes Kompendium individueller An-, Ein- und Aussichten ganz unterschiedlicher Protagonisten zur Documenta vorgelegt, das auch jedem mit Kunst befassten Stadtpolitiker über die Grenzen Kassels hinaus als Vademecum anempfohlen sei.
Ulli Seegers