Simone Rauthe: Historisch-Narrative Kompetenz. Ein qualitatives Experiment im darstellungsorientierten Geschichtsunterricht (= Reihe Geschichtsdidaktik; Bd. 15), Herbolzheim: Centaurus 2014, 157 S., ISBN 978-3-86226-266-3, EUR 25,80
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Definiert man Kultur als Leben in und mit Bedeutungen, leuchtet unmittelbar ein, warum Narrationen für die Bildung und Sozialisation junger Menschen eine so große Rolle spielen müssen: Bedeutungen werden überwiegend durch Geschichten kommuniziert, und historische haben daran keinen geringen Anteil. Die aktive und passive Fähigkeit des Umgangs mit Geschichtsgeschichten (Volkhard Knigge) [1] wurde folgerichtig zu einer Schlüsselkompetenz, die in den diversen Kompetenzmodellen der Fachdidaktik Geschichte zwar mit unterschiedlichen Bezeichnungen belegt worden ist, aber durchgängig hoch gewichtet wird. Denn Erwachsene stehen vor der Aufgabe, sich mit den sie umgebenden Deutungen der Geschichtskultur auseinanderzusetzen und ihren eigenen Deutungen Geltung zu verleihen.
Die Verfasserin, im gymnasialen Schuldienst in Nordrhein-Westfalen tätig, weiß, dass sie mit ihrem Versuch, die historisch-narrative Kompetenz von OberstufenschülerInnen auf Basis von deren Geschichtsdarstellungen zu rekonstruieren, nicht alleine steht. Ausführlich referiert sie frühere Untersuchungen, wovon diejenigen von Michele Barricelli, Carlos Kölbl, Matthias Martens und Olaf Hartung die vergleichbaren sind und hinsichtlich ihrer Ergebnisse auf keinen gemeinsamen Nenner gebracht werden können. [2] Rauthe möchte diese Untersuchungen weiterführen und sich zugleich von ihnen abheben. Die international diskutierte Conceptual-Change-Forschung, die untersucht, wie sich Wissensstrukturen wandeln können, dient ihr als Grundlage zur Beschreibung der narrativen Kompetenz, die strukturell verstanden wird, etwa im Sinne einer Umsetzung von Sachkompetenz, wie sie das Modell zur Förderung und Entwicklung eines reflektierten und (selbst-)reflexiven Geschichtsbewusstseins (FUER Geschichtsbewusstsein) definierte. Wenn von SchülerInnen erwartet wird, fachangemessen Geschichte zu schreiben, müssen diese ältere, naive Konzepte überwinden.
Ihr Forschungsdesgin folgt dem qualitativen Experiment im Rahmen der heuristischen Sozialforschung, wie es als Verfahren von dem Soziologen Gerhard Kleining [3] begründet wurde (29-43), das in einer ausführlichen Selbstreflexion des Forschers gründet (hier 43-53), einen offenen Forschungsgegenstand benötigt, der einer maximalen Varianz von Perspektiven unterworfen wird, um die gewonnenen Daten dann auf Gemeinsamkeiten zu untersuchen. Inhaltlich argumentiert Rauthe, dass Schulbücher durch ihren Aufbau nur unzureichend in der Lage seien, SchülerInnen den Umgang mit Geschichten zu lehren, selbst dort, wo sie Darstellungen thematisierten. Denn Auszüge aus wissenschaftlicher Historiographie dürften sich, wie die Verfasserin wohl mit Recht annimmt, sprachlich kaum erschließen, von der Erarbeitung der intendierten Kontroversität ganz abgesehen. Ihre Idee ist es daher, statt auf ein Schulbuch auf eine historiographische Ganzschrift im Unterricht zu setzen, um historisch-narrative Performanz zu aktivieren.
In der institutionellen Praxis des Geschichtsunterrichts ließ sich dazu folgendes Experiment verwirklichen: Eine Gruppe von 24 SchülerInnen, methodisch konventionell mit einem Schulbuch zum Thema Reformation unterrichtet, erhielt den großflächig formulierten Arbeitsauftrag, eine historische Darstellung zur Reformation vorzulegen. Dann konnte die Gruppe geteilt werden. Eine Teilgruppe wurde wiederum mit Hilfe eines Schulbuchs unterrichtet, die andere las mit einer anderen Lehrkraft die Ganzschrift "Wie wir wurden, was wir sind" [4] von 2002 in den relevanten Auszügen (zu den Revolutionen 1789 bis 1848, einschließlich der industriellen). Begleitet wurde die Lektüre von 37 Darstellungsaufgaben (66-93), zumindest implizit kompetenzorientiert, die die Lektüre erschlossen und auch die grundlegende These vom deutschen Sonderweg debattierten. Beide Gruppen erhielten anschließend den gleichen großflächigen Darstellungsauftrag, der im Grunde auf eine Reproduktion des Gesamtnarrativs für diese Epoche der Revolutionen zielte. Schülerinterviews informellen Charakters schlossen sich an.
Da es sich gerade um keine Interventionsforschung handelte, sondern das Forschungsinteresse auf invariante Strukturen gerichtet war, wurden alle Schülerdarstellungen auf Gemeinsamkeiten hin untersucht. Der Abdruck von zehn Aufsatzpaaren, die das ganze Spektrum repräsentieren sollen, ermöglicht dem Leser, die Analyse nachzuvollziehen, die sieben sogenannte Cluster als Gemeinsamkeit der Darstellungen herausarbeitet: schroffe, nie historisierte Entgegensetzung von arm/reich im Sinne der ökonomisch-sozialen Dimension von Pandels Modell des Geschichtsbewusstseins, Fortschrittsorientierung als anthropologische Konstante, Personalisierung (auch von Institutionen), Einbettung des Geschehens in Ursachen und Folgen, räumliche und temporale sowie passivierende Unbestimmtheit des Geschehens, Werturteile durch allgemeine Adjektive und Numerale sowie "[ü]ber Geschichtswissen informieren und wahre Aussagen machen". Letzteres meint den weitgehenden Verzicht auf modale Aussagen.
Die sich teils überlappenden Cluster korrespondieren gut mit bisherigen Forschungsergebnissen. Manches, wie die Tendenz simplifizierender Bewertung, mag durch nicht ganz oberstufenkonforme Aufgabenformate antrainiert worden sein. Positiv wird von der Verfasserin hervorgehoben, dass keine Überwältigung durch die zentrale These der Ganzschrift (Sonderweg) zu beobachten sei. Unschwer ist nach Meinung des Rezensenten aber auch zu erkennen, dass die Thematik den Unterrichteten äußerlich blieb. Sprachlich orientierten sie sich an ihren historiographischen Vorlagen, Folge des Schreibauftrags, ohne ihnen gewachsen zu sein: "Für die Einsicht in den Konstruktcharakter von Geschichte gab es jedenfalls auf der performativen Ebene keine Anhaltspunkte" (137). Nicht untersucht wurden die Triftigkeiten der erzählten Geschichten. Hier ließen sich weitere Gemeinsamkeiten historischer Narrationen finden wie Tendenz zum Synkretismus (das Heilige Römische Reich als Zollverein) und Zentrismus (erste deutsche Eisenbahn von Berlin nach Potsdam), Substitution von Abstraktem durch Konkretes et cetera.
Insgesamt überzeugt die Untersuchung durch ihre klare Struktur und ihren methodischen Ansatz der qualitativen Heuristik, deren Ergebnisse nicht hinter anderen empirischen Ansätzen zurückbleiben. Die methodische Überlegung, Ganzschriften im Geschichtsunterricht einzusetzen, verdient ebenfalls weitere Diskussion (der Rezensent denkt dabei an Epochenoriginale wie das Nibelungenlied zum Thema Mittelalter oder historiographische Selbstzeugnisse). Aber vermutlich wurden in den realen Klassenzimmern durch den "ganzen Film" längst andere Fakten geschaffen.
In Hinblick auf alle Darstellungsformen sollte allerdings zunächst einmal grundsätzlich bedacht werden, was SchülerInnen heute semantisch und sprachlich zugemutet wird. Der mittlerweile schon allein aus Platzgründen vorherrschende Handbuchstil (auch im Off-Kommentar vieler Filmdokumentationen), und dies dürfte ein teils implizites Ergebnis der vorliegenden Untersuchung sein, spricht sie weder kognitiv noch affektiv an, noch können sie instrumentell damit umgehen.
Anmerkungen:
[1] Volkhard Knigge: "Triviales" Geschichtsbewußtsein und verstehender Geschichtsunterricht (= Geschichtsdidaktik Studien - Materialien NF; Bd. 3), Pfaffenweiler 1988.
[2] Carlos Kölbl: Geschichtsbewusstsein. Empirie, in: Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, 2 Bde., hg. von Michele Barricelli/Martin Lücke, Schwalbach/Ts. 2012, S. 112-120.
[3] Gerhard Kleining: Lehrbuch entdeckende Sozialforschung. Bd. 1. Von der Hermeneutik zur qualitativen Heuristik, Weinheim 1995. Der zweite Band sollte Einzelmethoden in Zusammenhang mit Erhebungs- und Analysebeispielen vorstellen.
[4] Rüdiger Hachtmann/Joachim Rohlfes/Volker Ullrich: Deutsche Geschichte. Wie wir wurden, was wir sind. 19. Jahrhundert 1789-1918, Stuttgart u. a. 2002, URL: https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-41100-8 [27.09.2016].
Stefan Benz