Jan-Hendryck de Boer / Marian Füssel / Jana Madlen Schütte (Hgg.): Zwischen Konflikt und Kooperation. Praktiken der europäischen Gelehrtenkultur (12.-17. Jahrhundert) (= Historische Forschungen; Bd. 114), Berlin: Duncker & Humblot 2016, 443 S., ISBN 978-3-428-14951-3, EUR 99,90
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Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720, Göttingen: Wallstein 2018
Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen: Mohr Siebeck 2015
Wilhelm Schmidt-Biggemann / Friedrich Vollhardt (Hgg.): Ideengeschichte um 1600. Konstellationen zwischen Schulmetaphysik, Konfessionalisierung und hermetischer Spekulation, Stuttgart / Bad Cannstadt: Frommann-Holzboog 2017
Marian Füssel (Hg.): Der Siebenjährige Krieg 1756-1763. Mikro- und Makroperspektiven, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Marian Füssel: Waterloo 1815, München: C.H.Beck 2015
Jan-Hendryk de Boer / Marian Füssel / Maximilian Schuh (Hgg.): Universitäre Gelehrtenkultur vom 13.-16. Jahrhundert. Ein interdisziplinäres Quellen- und Methodenhandbuch, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2018
Hintergrund und Grundlage für den neuen Sammelband sind die Arbeiten des DFG-Netzwerkes zu Institutionen, Praktiken und Positionen der Gelehrtenkultur vom 13. bis 16. Jahrhundert, in dem man seit 2011 am Göttinger Lehrstuhl von Marian Füssel an einem Handbuch zu Quellen und Methoden der Universitätsgeschichte arbeitet. Dass dieses in Kürze zu erwartende Werk unsere Kenntnis der "vormodernen Universitäts- und Gelehrtengeschichte" (9), also eine an ergiebigen Forschungsansätzen und neuen Ergebnissen gewiss nicht arme Forschungslandschaft weiter maßgeblich inspirieren wird, zeigen auch die Beiträge zu diesem Band, der personell und thematisch aus der gleichen Quelle stammt: eben der 'Göttinger Praxeologie' (wie man inzwischen wohl sagen kann, ohne in Rätseln zu sprechen). Wie die Herausgeber schreiben, ist der auf eine Tagung zurückgehende Band als Ergänzung des Handbuchs (durch Fallanalysen und weitere Quellentypen) gedacht, und er soll dessen Grenzen auch zeitlich überschreiten und den Blick nach vorwärts bis ins 18. Jahrhundert öffnen, wie dies etwa in dem gehaltvollen Beitrag von Yann Dahhaoui (Lausanne) geschieht, der an einem markanten Einzelfall eine spezielle Geschichte des gelehrten Exzerpierens dokumentiert. Bestimmend ist auch hier "der Fokus auf die Praktiken der Wissenskulturen". 'Praktiken' sind nicht einfach 'Handlungen' oder 'Rollenhandeln', und selbst Normen und Diskurse "sind nicht das Andere der Praktiken" (11). Diese seien vielmehr, wie Füssel formuliert, zu verstehen als der immer in konkreten Situationen sich ereignende "Vollzug von Sprechakten und Handlungen im Zusammenspiel von Dingen und körperlichen Routinen von Akteuren". [1] Nicht zuletzt die derart weite (um nicht zu sagen kompromisshafte) Bestimmung des praxeologischen Ansatzes dürfte für seine breite Applikationseignung verantwortlich sein, die sich in den unterschiedlichen Beiträgen auch dieses Bandes wieder bewährt.
Die vier ausgewählten gelehrten Praxisfelder, nach denen die Sektionen seiner Gliederung benannt sind, Organisieren, Streiten, Disputieren und Repräsentieren, stehen zugleich für "das Spannungsfeld von Konflikt und Kooperation" (12), das im Buchtitel zum Ausdruck kommt, der also bei aller abstrakt-allgemeinen Formelhaftigkeit durchaus etwas Bestimmtes meint und anderes auch ausschließt. Mit der Auswahl gerade dieser Praxisfelder - dass sie sich überschneiden, wird durchaus gesehen, wenn auch nicht systematisch verfolgt - rückt der Band zum einen an das schon öfter bearbeitete Feld der gelehrten Tätigkeiten heran [2], andererseits bietet er eingehende Studien zur Institutionen-, Organisations- und Administrationsgeschichte der Gelehrtenkultur(en) zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Besonders gründlich ist hier die Untersuchung von Jean-Luc Le Cam (Brest) über drei Quellengattungen des akademischen Unterrichts: Lektionskataloge, Vorlesungszettel und Programmata am Beispiel des Helmstedter Rhetorikprofessors Christoph Schrader (1601-1680), und Willem Frijhoff (Rotterdam) gibt einen prägnanten Überblick über die Ausdifferenzierung der höheren Bildungsinstitutionen besonders im 17. Jahrhundert: University, academia, Hochschule, college sowie die neuen Zwischenformen der verschiedenen Gymnasien und 'Gelehrtenschulen'. Wichtig ist hier der wenigstens knappe Hinweis auf die Entstehung eines neuen Gelehrtenmilieus, das sich in diesen verschiedenen Organisationsformen ausbildet, darunter nicht immer professionals, auch otiosi und virtuosi, vielleicht die eigentlichen Mitglieder der Respublica litteraria, in denen Frijhoff den neuen Typus des public intellectual sieht (Constantijn Huygens als treffendes Beispiel) - und besonders interessant dann auch der Hinweis auf den intellectuel frustré, über den Chartier und Darnton geschrieben haben: den in den verschiedenen 'akademischen Überfüllungskrisen' mit oder ohne Studienabschluss zeitweise oder dauerhaft stellungslos gebliebenen Akademiker. Wie von anderen festgestellt, rekrutierten sich aus diesen Kreisen zahlreiche Autoren des Journalismus, Zeitungsschreiber und noch mehr die Mitarbeiter an den vielen, oft sehr kurzlebigen Journalen im späten 17. und im 18. Jahrhundert.
Als Fallgeschichten lesenswert sind auch Bernd Roling (FU Berlin) über den Streit zwischen zwei Medizinern im 17. Jahrhundert in Italien sowie Matthias Roick (Göttingen) über Konflikte unter den berühmten Humanisten Lorenzo Valla, Antonio Beccadelli und Bartolomeo Facio am aragonesischen Hof im Neapel des späten 15. Jahrhunderts. Auch wenn es nicht direkt zu seinem Thema gehört: dass Roick Beccadellis (gen. 'il Panormita', d.h. aus Palermo) berüchtigte Hermaphroditus-Gedichte nicht einmal erwähnt, ist unverständlich, weil er damit gerade an denjenigen Konturen vorbeigeht, die den Namen dieses Autors bis heute bestimmt haben. [3] Hanspeter Marti (Engi, Schweiz) handelt von der frühneuzeitlichen Schuldisputation, einem Forschungsthema, das Marti bekanntlich nahezu im Alleingang begründet und seit Jahrzehnten erfolgreich vorangetrieben hat. Diesmal berichtet er auch über persönliche Erfahrungen mit Perspektiven und Problemen dieser Forschungen. [4] Martis Überlegungen sind zugleich ein Beispiel dafür, dass mehrere Beiträge in diesem Band auch andere Forschungsinteressen als solche, die sich der 'Praxeologie' widmen, zu bieten haben.
Anmerkungen:
[1] Marian Füssel: Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure - Handlungen - Artefakte, hg. von Arndt Brendecke, Köln u.a. 2015, 26; weitere theoretische Literatur zur Praxeologie im Anhang zur Einleitung der Hgg. Für die exemplarische Applikation und Ergiebigkeit vgl. immer Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006; dazu die Rez. des Verf. in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), H. 2, 273ff.
[2] Vgl. Helmut Zedelmaier / Martin Mulsow (Hgg.): Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001; und zuletzt Helmut Zedelmaier: Werkstätten des Wissens zwischen Renaissance und Aufklärung, Tübingen 2015, dazu die Rez. des Verf. in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 10, http://www.sehepunkte.de/2016/10/27611.html.
[3] Vgl. u.a. den deutschen Neudruck von Antonio Beccadelli: Hermaphroditus. Lat. u. deutsch (= Reclam-Bibliothek; 1416), Leipzig 1991, nach einer Übers. von 1824 (von Friedrich Carl Forberg).
[4] Die Publikation der Ergebnisse des Frankfurter DFG-Projektes Wissenschaftshistorische Erschließung frühneuzeitlicher Dissertationen zur Rhetorik, Poetik und Ästhetik aus den Universitäten des Alten Reiches, an dem Marti mitgearbeitet hat, ist in Vorbereitung.
Herbert Jaumann