Benjamin G. Wright III: The Letter of Aristeas. 'Aristeas to Philocrates' or 'On the Translation of the Law of the Jews' (= Commentaries on Early Jewish Literature (CEJL)), Berlin: De Gruyter 2015, XI + 501 S., ISBN 978-3-11-043904-5, EUR 119,95
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"Bei dem Aristeasbrief (der Titel ist wohl nicht ursprünglich) handelt es sich um einen pseudepigraphen Briefroman in gehobener griechischer Sprache, der eine Apologie des hellenistischen Judentums ausführt und dabei in legendarischer Weise von der Entstehung einer griechischen Übersetzung des Pentateuchs, der Septuaginta, erzählt." [1] Der mit knapp 13.000 griechischen Wörtern weniger als die Hälfte des Umfang der griechischen Version des Genesis-Buchs umfassende Text ist von zentraler Bedeutung nicht nur für das Verständnis des hellenistischen Judentums, für das er wohl erstellt wurde, sondern auch konstitutiv für die Überzeugung der orthodoxen Christenheit, dass nicht (oder nicht nur) der hebräische Text des Alten Testaments, sondern die (in ihrer Entstehung im Aristeasbrief geschilderte) griechische Übersetzung der Siebzig, eben die "Septuaginta", der göttlich inspirierte Bibeltext ist. [2] Es ist daher, wie Benjamin G. Wright III richtig feststellt, überraschend, dass ein umfassender moderner Kommentar ("a complete and full commentary") zum Aristeasbrief bisher fehlt, und es ist das Verdienst von Loren Stuckenbruck, den Gelehrten zu dieser Arbeit ermutigt und sie nun in der von ihm herausgegebenen Reihe "Commentaries on Early Jewish Literature" herausgebracht zu haben.
Die Einführung zu dem Band präsentiert das Ziel des Kommentars und erörtert dann den historischen Wert, den Titel und den Autor und die Zeitstellung des antiken Werkes. Auf einen sehr knappen Abschnitt zur Textüberlieferung folgen Überlegungen zur Integrität des Aristeas und seiner Quellen, zur Gattung, literarischen Form und deren Quellen, zur Beziehung zu anderer jüdischer Literatur und schließlich zum Lesepublikum und Darstellungsziel des Aristeas. An ungewöhnlicher Stelle, nämlich als zweites Kapitel (77ff.) folgt die Bibliographie (die dabei verwendeten Abkürzungen werden aber merkwürdigerweise erst 459f. erschlossen). [3] Einen griechischen Lesetext bietet der umfangreiche Band nicht; als drittes Kapitel und eigentlicher Kern des Buchs folgen vielmehr, auf einzelne Abschnitte verteilt, sogleich eine englische Übersetzung und ein genauer Kommentar, der stets zunächst Hinweise zum Text ("textual notes") bietet (zu deren Nachvollziehbarkeit das gleichzeitige Heranziehen einer kritischen Textedition nötig ist),[4] dann einen allgemeinen Kommentar ("general comment") und schließlich Einzelanmerkungen ("notes").
Insbesondere der Kommentar wird künftig für viele ein Ausgangspunkt für die Befassung mit dem Aristeasbrief sein. Es ist daher umso bedauerlicher, dass der Band - man muss dies so hart formulieren - einen beachtlichen Teil der internationalen Forschung zum Aristeasbrief ignoriert. Vergeblich sucht man in ihm nach einer Kenntnisnahme etwa der Arbeiten von Martin Hengel, Martin Karrer und Wolfgang Kraus zum antiken Judentum im Allgemeinen und zur Septuaginta und ihrem Umfeld und eben namentlich zum Aristeasbrief im Besonderen. Dass Leseausgaben des Aristeasbriefs etwa in der "Biblioteca Universale Rizzoli" (Milano 1995) oder in "Reclams Universalbibliothek" (Stuttgart 2008) unbeachtet bleiben, ist verständlich, doch wird auch die wissenschaftliche Übersetzung von Norbert Meisner in den Reihe "Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit" (Gütersloh 1973) nicht herangezogen, und zu den Ausgaben von Clara Kraus-Reggiani (Roma 1979) und Frederic Raurell (Barcelona 2002) heißt es in einer Fußnote (4 n. 7) lapidar, aber unplausibel, sie seien "not available" gewesen. Vor allem aber bleiben wichtige Monographien und Einzelstudien unberücksichtigt, die nicht auf Englisch publiziert sind. [5] Nur wenn man wichtige Teile der internationalen Forschung ignoriert, kann man einen Kommentar mit der Angabe beginnen: "The 'Letter of Aristeas' is in some ways an understudied work" (3).
Der Band markiert zwar einen beachtlichen Neuanfang in der Erschließung des sogenannten Aristeasbriefs, doch bleibt ein dem aktuellen internationalen Forschungsstand gemäßer "complete and full commentary" nach wie vor ein Desiderat.
Anmerkungen:
[1] Michael Tilly, Aristeasbrief (1997), in: WiBiLex - Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet, https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/13793.
[2] Martin Karrer / Wolfgang Kraus (Hgg.): Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, dazu: Erläuterungen und Kommentare. 2 Bde., Stuttgart 2011.
[3] Bedauerlich ist auch sonst die lieblose Präsentation des Bandes, die sich etwa auch in den oft praktisch unbrauchbaren Registern zeigt: Ihnen kann man für den 501 Seiten starken Band entnehmen, auf welchen 154 je einzeln angeführten Seiten "Ptolemy II Philadelphus" und auf welchen 157 "Greek" vorkommt, auf welchen 216 "king" und auf welchen 313 "Ps.-Aristeas".
[4] Das Digitalisat der von Wright empfohlenen, aber vergriffenen Edition von André Pelletier (Paris 1962) auf http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/110659/23/ ist dafür übrigens unbrauchbar, da der textkritische Apparat stets abgedeckt ist.
[5] So fehlen etwa die einschlägigen nicht-englischsprachigen Arbeiten von Luciano Canfora: Il viaggio di Aristea, Bari 1996; Michael Tilly: Geographie und Weltordnung im Aristeasbrief, in: Journal for the Study of Judaism 28 (1997) 131-153; Wolfgang Orth: Ptolemaios II. und die Septuaginta-Übersetzung, in: Heinz-Josef Fabry und Ulrich Offerhaus (Hgg.): Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der griechischen Bibel (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 153), Stuttgart 2001, 97-114; Giuseppe Veltri: Ein Tora für den König Talmai (Texte und Studien zum antiken Judentum 41), Tübingen 2004; Karl Matthäus Woschitz: Parabiblica. Studien zur jüdischen Literatur in der hellenistisch-römischen Epoche, Münster 2004, 152ff.; Gottfried Schimanowski: Juden und Nichtjuden in Alexandrien (Münsteraner Judaistische Studien 18), Münster 2006, 28ff.
Kai Brodersen