Enrico Heitzer / Günter Morsch / Robert Traba u.a. (Hgg.): Von Mahnstätten über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus? Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen in Polen und Deutschland (= Forschungsbeiträge und Materialien der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Bd. 18), Berlin: Metropol 2016, 221 S., ISBN 978-3-86331-325-8, EUR 19,00
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Immer häufiger ist in den letzten Jahren von einer erinnerungskulturellen Wende hinsichtlich der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft die Rede. In Deutschland wird nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs über ein "neue[s] Unbehagen an der Erinnerungskultur" [1] debattiert. Auch in der medialen Öffentlichkeit wurden wir jüngst Zeugen gezielter Angriffe auf den bisherigen bundesrepublikanischen Erinnerungskonsens. [2] Ebenso hat die Geschichtspolitik in Polen mit dem Regierungswechsel 2015 eine deutliche Verschärfung erfahren, wie etwa die omnipräsente Kritik an der (falschen, aber durchaus nicht omnipräsenten) Bezeichnung "polnische Konzentrationslager" zeigt. Diese aktuellen Entwicklungen fallen zusammen mit einem nicht zu vernachlässigenden Fakt: Dem Sterben der Zeitzeugen und dem Auftreten neuer Generationen, die ihrerseits neue Medien und neue Bedürfnisse mitbringen.
Haben wir es also mit einer Zäsur zu tun? Und wenn ja, welche Folgen hat dies für die Arbeit von Gedenkstätten an Orten von NS-Verbrechen? Vor welchen Herausforderungen stehen die "authentischen Orte" und was lässt sich über ihren Funktions-, Formen- und Bedeutungswandel in Vergangenheit und Zukunft sagen? Diesen Problemen widmete sich eine deutsch-polnische Tagung, die anlässlich des 70. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges vom Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften und der Gedenkstätte Sachsenhausen gemeinsam organisiert worden war und deren Beiträge der vorliegende Band versammelt.
Die Gliederung orientiert sich im Wesentlichen am Tagungsprogramm: Einer sehr knappen Einführung von Günter Morsch und Robert Traba folgt die verschriftlichte Keynote des Publizisten Adam Krzemiński, in der er einen persönlichen Ein- und Überblick über 70 Jahre des Erinnerns in Deutschland und Polen gibt und Europa eine "tiefe erinnerungspolitische Zeitenwende" (10) attestiert. Die folgenden Beiträge sind in vier Abschnitte aufgeteilt, denen jeweils ein kurzer einführender Kommentar vorangestellt ist. Abgeschlossen wird das Buch durch Auszüge aus der Abschlussdiskussion, auf der sich Robert Traba, Günter Morsch, Heidemarie Uhl und Bernd Faulenbach einhellig für "dialogisches Erinnern" beziehungsweise eine "Polyfonie der Erinnerung" (Traba, 210) und gegen eine homogenisierende, europäische Geschichtspolitik aussprachen.
Unter dem Titel "Von Orten des Gedenkens und der Trauer über zeithistorische Museen zu Orten des Massentourismus" ist der erste Teil des Buches eher unspezifisch den "Aufgaben von Gedenkstätten" gewidmet. Auch wenn ausgerechnet sein Fokus anderswo liegt, sei hier der Artikel von Jörg Skriebeleit über die räumliche Neukonzeption der Gedenkstätte Flossenbürg herausgehoben. Indem der Gedenkstättenleiter die verschiedenen Memorialkonzepte seit der ersten Denkmalinitiative durch hier angesiedelte polnische "Displaced Persons" nachzeichnet, stellt er das ehemalige Konzentrationslager als "mehrschichtigen Erinnerungsort" (50) im Spannungsfeld zwischen Denkmalpflege, Opferinteressen und Ästhetisierung vor. Skriebeleit plädiert dafür, auch jene Umgestaltungen des Geländes, die wir heute als problematisch wahrnehmen, in ihrem "zeitgenössischen memorialen Eigenwert" (50) ernst zu nehmen. Diese Haltung hatte - trotz der höchst reflexiven und sensiblen Umgestaltung - jedoch ihren Preis: Im Zuge der Neukonzeption kam es zum Bruch mit Teilen des französischen Flossenbürg-Komitees, die eine teilweise Rekonstruktion gefordert hatten.
Mit Kontroversen um das "richtige Gedenken" setzt sich der zweite Teil auseinander, der mit "Politische Instrumentalisierung, Gegenwartsaffirmation, Theologisierung und offener Lernort" überschrieben ist. Die hier versammelten Beiträge beziehen sich weniger auf das konkrete materielle Erbe der ehemaligen Konzentrationslager denn auf unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften und die von ihnen jeweils betriebenen Geschichtspolitiken. Während Zofia Wóycicka sich mit den internationalen Auschwitz- und Buchenwald-Komitees grenzüberschreitenden Erinnerungsnetzen vor 1989 zuwendet, deren Dialogversuche letztlich "am Eisernen Vorhang [...] zerschellt" (83) seien, widmen sich Andrew H. Beattie und Ljiljana Radonić in ihren Beiträgen der Problematik doppelter Gewaltvergangenheiten auf verschiedenen Ebenen. Am Beispiel des wiedervereinigten Deutschlands zeichnet Beattie die Debatte um jene Gedenkstätten nach, die - wie Buchenwald oder Sachsenhausen - sowohl als Konzentrationslager als auch nach dem Krieg als sowjetische Speziallager gedient hatten. Analog zur Konkurrenz zwischen beiden Häftlingsgruppen analysiert Radonić das Spannungsfeld postsozialistischer Geschichtspolitik anhand von Gedenkmuseen in Ostmitteleuropa, die der Europäisierung des Holocausts eine nationale, antikommunistische Opfererzählung entgegensetzen.
Die Sektion befasst sich eingehend mit politischen Instrumentalisierungen, bleibt aber die angekündigten Reflexionen zum "offenen Lernort" schuldig. Fragen nach zeitgemäßer "Vermittlung und Pädagogik" finden sich erst im dritten Teil des Buches zusammengeführt, in dem die Gedenkstätten als außerschulische Lernorte diskutiert werden. Überzeugend stellt Hans-Christian Jasch den im Haus der Wannsee-Konferenz praktizierten Ansatz berufsspezifischer Zugänge in der Erwachsenenbildung vor. Indem die administrative, arbeitsteilige Organisation des Völkermordes in den Mittelpunkt gestellt werde, könnten (berufs-)ethische und Menschenrechtsfragen nachhaltig bearbeitet werden. Ganz anders das Konzept musealer Narration in der Krakauer "Schindlerfabrik", das Michał Niezabitowski präsentiert. Sein Plädoyer für die in der polnischen Museologie derzeit populäre szenografische Erzählung mag nicht jeden überzeugen. Sein Beitrag wirft jedoch als einer von Wenigen wichtige Fragen zum titelgebenden Massentourismus, zu Authentizität und Populärkultur auf. Wie kann an einem Ort, der durch Spielbergs berühmten Film international bekannt ist, die Geschichte der deutschen Besatzung Krakaus erzählt werden, ohne dabei entweder die Filmlegende zu reproduzieren oder die Besuchererwartungen zu enttäuschen?
Solche Fragen moderner Vermittlung lassen spannende Bezüge zu den Reflexionen im vierten Teil ("Zeitzeugen und Generationenwechsel") zu. Hier widmet sich Habbo Knoch dem Wandel im Umgang mit materiellen Relikten der ehemaligen Lager. Wie Skriebeleit thematisiert er die Spannung zwischen sakraler, historischer und musealer Dimension. Diese sprächen jeweils unterschiedliche "Erfahrungspotenziale" (169) der Besucher an und es gelte, sie gerade in ihrer Widersprüchlichkeit nutzbar zu machen. Mit einem sinnvollen Einsatz digitaler Technologien könne so das "Nichterzählbare" konkretisiert und die Gedenkstätten zu "partizipatorischen Räumen" (166) umgestaltet werden. Einen ganz anderen Blick auf den Generationenwandel wirft schließlich der Soziologe Piotr Filipkowski. In seinem Beitrag fokussiert er kulturelle Praktiken in Gedenkstätten, die sonst wenig Beachtung finden. Der Perspektivwechsel fordert jedoch die Ausgangsthese des Buches heraus, wenn er fragt: Überschätzen wir das Abtreten der Zeitzeugen nicht in seiner Bedeutung?
Es sind vor allem beobachtende Beiträge wie dieser, die den Band lesenswert machen. Die Dokumentation der Tagung macht deutlich, dass es - heute vielleicht mehr denn je - fruchtbar ist, Fragen nach dem Wandel von Gedenkstätten und Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Vergleich zu diskutieren. Das Genre "Tagungsband" bringt jedoch - wie leider häufig - Defizite mit sich, die das Erkenntnispotenzial unausgeschöpft lassen. Zum einen fehlte offenbar die Zeit, alle Beiträge nach wissenschaftlichen Kriterien zu redigieren, wie fehlende Belege (zum Beispiel in der Einführung) oder die Rückübersetzung deutscher Zitate aus dem Polnischen (43, Anmerkung 26) zeigen. Zum anderen mag es aus arbeitspragmatischer Sicht zwar sinnvoll erscheinen, die verschriftlichten Beiträge einer Konferenz gemäß der Tagungsstruktur zu veröffentlichen. Eine Zusammenführung bestimmter Themenstränge - in einer analytischen Einleitung, einem Resümee oder einer Neugliederung der Problemkomplexe - wäre jedoch wünschenswerter. So tauchen gerade diejenigen Fragen, die die Hypothese einer erinnerungskulturellen Zäsur auch jenseits der Zeitzeugenproblematik ansprechen, unkommentiert über den Band verteilt auf. Welche Potenziale bieten neue Methoden / Medien, etwa die Digitalisierung, für die Gedenkstättenarbeit? Welche Rolle spielt die Populärkultur für Besuchererwartungen und Vermittlungsarbeit? Wie verwandelt der titelgebende "Massentourismus" die Orte und Authentizitätszuschreibungen konkret? Und apropos "Authentizität": Irritierend ist der essentialistische Gebrauch dieses Begriffes in einigen Artikeln. Diese Tatsache macht deutlich, wieviel Bedarf nach Konzeptualisierung auf dem Feld noch besteht. Folgerichtig sah sich gleich eine ganze Reihe von Beiträgern veranlasst, den Diskussionsfaden im März dieses Jahres wiederaufzunehmen - auf einer Tagung über "Authentizität als Kapital historischer Orte" [3] in Dachau.
Anmerkungen:
[1] Aleida Assmann: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. Siehe außerdem: Dana Giesecke / Harald Welzer: Das Menschenmögliche. Zur Renovierung der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2012.
[2] Etwa in Björn Höckes Dresdner Rede. Siehe dazu Martin Sabrow: Höcke und wir, in: Zeitgeschichte-online, http://www.zeitgeschichte-online.de/kommentar/hoecke-und-wir, 25.01.2017 (zuletzt aufgerufen am 13.04.2017).
[3] Tagungsbericht: Authentizität als Kapital historischer Orte, 01.03.2017 - 03.03.2017 Dachau, in: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7097, 04.04.2017 (zuletzt aufgerufen am 13.04.2017).
Sabine Stach