Robert Spät: Die "polnische Frage" in der öffentlichen Diskussion im Deutschen Reich, 1894-1918 (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 29), Marburg: Herder-Institut 2014, X + 477 S., ISBN 978-3-87969-386-3
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Forschungen zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte im Ersten Weltkrieg haben zurzeit Hochkonjunktur. Einen neuen und innovativen Ansatz wählt diesbezüglich die mit dem Wissenschaftlichen Förderpreis der Republik Polen ausgezeichnete Freiburger Dissertation von Robert Spät. Der Autor untersucht darin, wie die "polnische Frage" vom Ende der Versöhnungsära unter Leo von Caprivi 1894 bis zur Entstehung des polnischen Staates im November 1918 im Deutschen Reich öffentlich diskutiert wurde. Darunter versteht er "unzählige Äußerungen zu diesem Thema, die in Zeitungen und Zeitschriften, in Monografien, Broschüren und Pamphleten, in Reden auf Versammlungen und in den Parlamenten vorgetragen wurden" (2). Der Schwerpunkt und die Stärke der Untersuchung der Studie liegen eindeutig auf den Jahren 1914-1918. Der Autor hat sich dem Thema ausgehend von einer Masterarbeit über Hans Hartwig von Beseler als Generalgouverneur in Polen und dessen Nachlass im Militärarchiv in Freiburg genähert. [1] Er betrachtet vor allem Diskussionen über den Umgang mit den von Deutschland und Österreich-Ungarn besetzten polnischen Gebieten. Für die Jahre vor 1914 untersucht er, ohne dies überzeugend zu begründen, eine andere "polnische Frage", nämlich Diskussionen über die preußische Polenpolitik. Er konzentriert sich dabei auf Debatten über den Wreschener Schulstreik, die Ansiedlungspolitik in den Provinzen Posen und Westpreußen sowie den Sprachparagrafen des Reichsvereinsgesetzes.
Seine Darstellung ist einerseits eine willkommene Ergänzung zu zahlreichen Untersuchungen, die über die preußische Polenpolitik vorliegen, schöpft aber andererseits das Potenzial dieses neuen, medienhistorischen Ansatzes nicht annähernd aus. Beispielsweise setzt er die öffentliche Diskussion über die Polenpolitik nicht mit der über die polnischsprachige Bevölkerung des Russländischen Reichs und der Habsburgermonarchie in Beziehung. Außerdem versäumt er es, transnationalen Wechselwirkungen zwischen der deutschen Öffentlichkeit und derjenigen anderer Staaten nachzugehen. So bleibt offen, ob und wie zum Beispiel die Diskussion der preußischen Polenpolitik in Wien die Debatten in Berlin, Frankfurt oder Köln beeinflussten. Auch die Rückwirkung der 1908 von dem Schriftsteller Henryk Sienkiewcz in der französischen Öffentlichkeit durchgeführten Umfrage zur preußischen Polenpolitik wird nicht angesprochen. [2] Des Weiteren werden Reden und Äußerungen von Kaiser Wilhelm II. nicht als zentraler Punkt einiger Debatten identifiziert. [3] Ein weiteres Problem, dessen der Autor sich selbst bewusst ist, liegt in der - Hans Delbrück und Beseler ausgenommen - fehlenden Berücksichtigung von Korrespondenzen der beteiligten Akteure. Hier scheint es Spät an Zeit und Motivation zu einer tiefgründigeren Recherche gefehlt zu haben, die es ihm erlaubt hätte, mehr über deren Vernetzung, deren Strategien und weitere Hintergründe über das Entstehen der von ihm analysierten Beiträge zur öffentlichen Diskussion zu schreiben. Denkbar und interessant wäre hier zum Beispiel eine Durchsicht der Nachlässe von Martin Spahn, Max Sering, Matthias Erzberger und Georg Gothein im Bundesarchiv Koblenz oder des Nachlasses von Martin Rade in der Universitätsbibliothek Marburg gewesen. In einigen Fällen hätte aber auch die Auswertung der Sekundärliteratur zur besseren Kontextualisierung einiger Äußerungen beigetragen. Beispielsweise wurden die Positionen des SPD-Reichstagsabgeordneten und Journalisten des Vorwärts Georg Ledebour zur preußischen Polenpolitik und zum Selbstbestimmungsrecht der Polen im Ersten Weltkrieg bereits ausführlich beschrieben. [4]
Trotz dieser vorweg geäußerten Kritik ist die Studie von Spät lesenswert und bringt Neues. Einerseits korrigiert sie durch das besondere Interesse an den Verständigungsbefürwortern den Eindruck, dass an der öffentlichen Diskussion der "polnischen Frage" im Deutschen Reich nur "Scharfmacher" und "Polenfresser" beteiligt gewesen seien. Mit Gewinn lesen sich hier unter anderem die Passagen über Hans Delbrück, der als Herausgeber der Preußischen Jahrbücher eine zentrale und bisher zu wenig beachtete Figur in den deutschen Diskussionen über die Polenpolitik war. Spät kann zeigen, wie dieser seine Bemühungen mit Georg Wagner, dem Herausgeber der Posener Neusten Nachrichten, koordinierte. Es ist davon auszugehen, dass es weitere Verbindungen und Absprachen zwischen gleichgesinnten Journalisten und Publizisten gab. Mangels fehlender beziehungsweise nicht erschlossener Überlieferungen kann er diese jedoch nicht aufdecken.
Späts Darstellung konzentriert sich darauf, die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Publikationen zu rekonstruieren und auf die Aufmerksamkeitsdichte zu verweisen, die die Polenpolitik in der deutschen Öffentlichkeit hatte. Seine Analyse legt aber auch den von ihm so nicht geäußerten Schluss nahe, dass die Heftigkeit der von Mitgliedern und Sympathisanten des Ostmarkenvereins verwendeten Sprache eine Reaktion auf die Diskussionsbeiträge der Gegner einer restriktiven Polenpolitik gesehen werden kann. Die Hakatisten sollten also zukünftig nicht nur mit dem Erstarken der polnischen Nationalbewegung in den preußischen Ostprovinzen, sondern auch mit ihren innenpolitischen Gegnern in Beziehung gesetzt werden.
Während sich bis 1914 kaum Polen an den Diskussionen beteiligt hatten, änderte sich dies mit Kriegsausbruch. Wilhelm Feldman, Stanisław Przybyszewski und andere gaben nun für die deutsch-polnische Verständigung werbende Schriften heraus und sorgten dafür, dass Russland als gemeinsamer Feind eine größere Bedeutung in der Diskussion gewann. Spät betont jedoch, dass diese deutschfreundlichen polnischen Stimmen zwar sich selbst als repräsentativ bezeichneten, dies aber keinesfalls waren. Auf die Frage, ob ihren deutschen Gesinnungsgenossen dies bewusst war, hat er leider keine Antwort. Erst 1918 gaben die polnischen Reichstagsabgeordneten ihre bis dahin geübte Zurückhaltung auf und kritisierten die deutsche Polenpolitik wie vor 1914 offen. Nachdem sich auch die Mehrheit der Versöhnungsbefürworter für den Vertrag von Brest-Litowsk ausgesprochen und damit eine um als polnisch angesehene Gebiete erweiterte Ukraine befürwortet hatte, war die kurze Episode der gemeinsamen Suche nach Lösungen für die "polnische Frage" bereits wieder Geschichte.
Mit Blick auf die deutschen Akteure kann Spät zeigen, dass Beseler in namentlich nicht gekennzeichneten Zeitungsartikeln für seine Polenpolitik warb. Eine weitere vom Autor rekonstruierte Facette der Diskussion sind Berichte von Journalisten, die für kurze Zeit nach Polen gereist waren. Derartige "Polenreisen" scheint es vor 1914 nicht gegeben zu haben. Fehlendes Vorwissen und eine scheinbar mangelhafte Vorbereitung der Journalisten führten jedoch dazu, dass durch die Vororteindrücke die Qualität der Berichterstattung nicht stieg und auch die Diskussion durch diese kaum bereichert wurde.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass Spät eine für die Jahre 1914-1918 überzeugende Arbeit vorgelegt hat, die das Erkenntnispotenzial einer auf Printmedien fokussierten Öffentlichkeitsforschung deutlich macht. Für den vorhergehenden Zeitraum 1894-1914 trifft dies dagegen nicht vollumfänglich zu.
Anmerkungen:
[1]: Robert Spät: Für eine gemeinsame Zukunft? Hans Hartwig von Beseler als Generalgouverneur in Polen 1915-1918, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 58 (2009), 469-500.
[2]: Danuta Płygawko: "Prusy i Polska". Ankieta Henrzka Sienkiewicza (1907-1909) ["Preußen und Polen". Die Umfrage von Henryk Sienkiewicz], Poznań 1994.
[3]: Hier hätte eine Rezeption des im Literaturverzeichnis fehlenden Buches von Martin Kohlrausch: Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005, weiterhelfen können.
[4]: Ursula Ratz: Georg Ledebour 1850-1947, Berlin 1969, 85-101, 170-174.
Stefan Dyroff