Heinz A. Richter: Mythen und Legenden in der griechischen Zeitgeschichte (= Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns; Bd. 74), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2016, 116 S., ISBN 978-3-447-10703-7, EUR 19,80
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Heinz A. Richter: Griechenland 1940-1950. Die Zeit der Bürgerkriege, Wiesbaden: Harrassowitz 2012
Heinz A. Richter (Bearb.): Griechenland 1942-43. Erinnerungen von Elisabeth und Konstantinos Logothetopoulos, Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2015
Die Geschichte Griechenlands seit dem Zweiten Weltkrieg sei nicht frei von Mythen und Legenden, behauptet der Griechenland-Historiker Heinz Richter in seinem neuen Buch. Diese prägten den öffentlichen Diskurs in Griechenland und nähmen Einfluss auf die Athener Politik - mit gefährlichen Folgen, wie der Autor, etwa mit Hinweis auf den derzeitigen Stand der deutsch-griechischen Beziehungen, mit Bedauern feststellt. Mit dieser allgemeinen Behauptung liegt Richter prinzipiell nicht falsch. Bis zum Sturz der Obristen-Diktatur im Jahr 1974 gab es Zeitgeschichte an griechischen Universitäten nicht. Wer sich mit griechischer Zeitgeschichte wissenschaftlich befassen wollte, musste aufgrund der schwierigen politischen Verhältnisse nach dem Ende des Bürgerkriegs im Jahr 1949 ins Ausland gehen. Hinzu kam, dass wichtige griechische Archive, etwa das Archiv des Außenministeriums in Athen, für die historische Forschung jahrzehntelang gesperrt waren.
Wer zu einem Thema der griechischen Zeitgeschichte forschen wollte, war daher auf das Studium und die Auswertung britischer, deutscher und US-amerikanischer Quellen angewiesen. Es ist kein Wunder, dass die Standardwerke über die deutsche Besatzungszeit (1941-1944) und die Bürgerkriege (1943/44, 1946-1949) - vor allem aus den Sechziger- und frühen Siebzigerjahren - in englischer und deutscher Sprache verfasst wurden. Beispielhaft dafür sind unter anderem Richters Arbeiten. Diese Werke aber erreichten wohl kaum ein breites Lesepublikum in Griechenland. Aus diesem Grund fand dort eine nüchterne Aufarbeitung der Geschichte der ohnehin in vielerlei Hinsicht problematischen Vierzigerjahre nicht statt. Das Verfassen von Geschichtsbüchern war eine Angelegenheit von Persönlichkeiten aus Politik und Militär sowie von Journalisten. Professionelle Historiker hingegen kamen sehr selten - wenn überhaupt - zu Wort. So entstanden jene "Mythen und Legenden", gegen die Richter mit gutem und mutigem Ansatz argumentiert.
Richter fokussiert auf sechs Fallbeispiele, die mit der Geschichte Griechenlands im Zweiten Weltkrieg in engem Zusammenhang stehen: den "Sechs-Wochen-Krieg", die Hungersnot der Athener Bevölkerung im Winter 1941/42, den "Kriegsverbrecher" Max Merten, die britische Militärintervention in Athen im Dezember 1944, die Reparationsfrage und die sogenannte Besatzungsanleihe. Zu jedem Fallbeispiel, so der Autor, gibt es einen Mythos beziehungsweise eine Legende, wobei nicht klar ist, worin der Unterschied zwischen den beiden Begriffen besteht. Richter scheint sie eher als Synonyme zu verwenden. An dieser Stelle wäre eine Abgrenzung wünschenswert gewesen.
Im ersten Fallbeispiel tritt Richter einem in Griechenland immer noch beliebten Mythos entgegen, wonach der deutsche Griechenlandfeldzug im April 1941 die Ursache für den verspäteten Beginn des "Unternehmens Barbarossa" und - darüber hinaus - für die Niederlage des "Dritten Reichs" gewesen sei. Sehr überzeugend legt er die Gründe für die Entstehung und Persistenz dieses Mythos dar. Im zweiten Fallbeispiel widerlegt er den immer noch in der Öffentlichkeit kursierenden Mythos von den 300.000 Hungertoten in Athen im "schwarzen Winter" 1941/42. Ihre Zahl beziffert er auf circa 30.000 für den Raum Athen-Piräus und auf etwa 100.000 in ganz Griechenland - auch diese Zahlen sind schrecklich genug. Zugleich unterstreicht er die Bedeutung der britischen Seeblockade für den Ausbruch der Hungersnot, ohne die Verantwortung der deutschen und italienischen Besatzungsmacht herunterspielen oder gar verharmlosen zu wollen.
Im dritten Fallbeispiel untersucht Richter den "Fall Merten", der gegen Ende der Fünfzigerjahre großes Aufsehen erregt und die deutsch-griechischen Beziehungen auf die Probe gestellt hat. Den oft geäußerten Vorwurf, dass der Kriegsverwaltungsrat Max Merten ein Hauptakteur bei der Deportation der Juden Thessalonikis in die Vernichtungslager gewesen sei, kann Richter so nicht bestätigen. Im Gegenteil weist er auf die eher bescheidene Funktion Mertens in der Besatzungsadministration hin, die ihn aus seiner Sicht allenfalls zum ausführenden Organ der nationalsozialistischen Judenpolitik werden ließ.
Im vierten Fallbeispiel setzt sich Richter kritisch mit dem "Mythos von der kommunistischen Revolution" im Dezember 1944 auseinander, die der britischen Schutzmacht ein Alibi für ihre angeblich im Jahr 1943 beschlossene Intervention gegen die kommunistisch ausgerichtete Partisanenbewegung geboten habe. Die britische Verantwortung war von der griechischen (allerdings antikommunistischen) Literatur der Nachkriegszeit tatsächlich geschmälert worden. Freilich sollte man hier Vorsicht walten lassen, denn eine Überbewertung der Einmischung des "britischen Faktors" - wie es oft in den Erinnerungsschriften kommunistischer Parteifunktionäre geschieht - kann die Bedeutung der "griechischen Faktoren" schmälern, mit der Gefahr, dass die griechischen Akteure zu Organen fremder Mächte und Interessen degradiert werden.
Im fünften und sechsten Fallbeispiel wendet sich Richter finanzpolitischen Aspekten zu, die angesichts der derzeitigen griechischen Finanzkrise auch in Deutschland aufmerksam verfolgt werden. Richter bestreitet, dass die Bundesrepublik keine Reparationszahlungen an Griechenland für die Opfer und Schrecken der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft geleistet habe und dass die Frage der "Besatzungsanleihe" berechtigt beziehungsweise existent sei. Der 1958 genehmigte Investitionskredit in Höhe von 200 Millionen DM diente laut Richter nicht nur dem Wiederaufbau Griechenlands, sondern war auch - zumindest aus Sicht des Auswärtigen Amts - als (getarnte) Wiedergutmachung für die Leiden der Besatzungszeit zu verstehen (95). Daneben sollte der Kredit der innenpolitisch bedrängten Karamanlis-Regierung helfen, sich zu stabilisieren und den wirtschaftlichen Offerten von Ostblock-Staaten zu widersetzen.
Die "Besatzungsanleihe" - auch "Zwangsanleihe" genannt - stellt ein anderes, äußerst kompliziertes und brisantes Problem dar. Während der Besatzungszeit soll das Deutsche Reich einen "Kredit" bei Griechenland aufgenommen haben. Dem von Richter zitierten Abschlussbericht der Reichsbank vom 12. April 1945 ist zu entnehmen, dass sich die Restschulden, "die das Reich gegenüber Griechenland hat, noch auf 476 Mio. RM" belaufen (103). Doch Richter kommentiert diese Angabe dahingehend, dass es sich um einen "Rechnungsbetrag bezüglich der Besatzungskosten von der griechischen Seite" - und nicht um eine Anleihe - gehandelt hat. Zudem gebe es im selben Bericht eine "analoge Auflistung der griechischen Schulden bei Deutschland" (104). Daher, schlussfolgert er, ist die Frage der deutschen "Kreditschuld" ebenfalls ins Reich der Legenden zu verweisen. Diese Position brachte ihm bereits scharfe Kritik seitens griechischer und deutscher Kollegen ein und wurde in der deutschen Presse ausführlich besprochen.
Mit seinen "Mythen und Legenden" weist Richter auf Verzerrungen in der Wahrnehmung historischer Ereignisse seitens der griechischen und partiell auch der deutschen Öffentlichkeit hin. Sein Buch kann daher mit Gewinn als Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung Griechenlands mit seiner eigenen Vergangenheit, die zum Teil auch Deutschland betrifft - und zwar mehr als vermutet -, gelesen werden. Man kann davon ausgehen, dass seine provokant, aber durchaus legitim formulierten Thesen nicht unwidersprochen bleiben werden - eine erfreuliche Entwicklung für die Entmythisierung der griechischen Zeitgeschichte im öffentlichen Raum.
Vaios Kalogrias