Simon C. Thomson / Michael D. J. Bintley (eds.): Sensory Perception in the Medieval West (= Utrecht Studies in Medieval Literacy; 34), Turnhout: Brepols 2016, VIII + 254 S., 10 Farb-, 14 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-56714-3, EUR 85,00
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Der Titel dieses Sammelbandes springt gleich ins Auge, denn die Geschichte der Sinne gehört zu den modernen Themen nicht nur der aktuellen Mediävistik. Wie wurde in der Vormoderne durch Sehen, Tasten, Schmecken, Hören und Riechen die Welt erfahren, und gab es dabei grundsätzliche Unterschiede und Parallelen zur Gegenwart? In Fortführung des Trends hin zu einer Geschichte der Emotionen bieten solche Fragestellungen wichtige Möglichkeiten, Einsichten zu erlangen, die einen frischen Zugang zur Mentalität vergangener Epochen eröffnen.
Hierzu trägt dieser aus einer Tagung am University College London 2014 resultierende Sammelband jedoch nur partiell bei. Seine Beiträge umfassen nämlich nicht den "Medieval West", wie der Titel vollmundig verspricht, sondern konzentrieren sich vor allem auf England und hier insbesondere auf die angelsächsische Zeit; nur drei Beiträge verlassen diese engere geographische und zeitliche Vorgabe, zwei davon, da sie skandinavische Dichtungen des Früh- und Hochmittelalters untersuchen.
Ins Spätmittelalter blickt einzig Mariana Lopez mit ihren Überlegungen zur sinnlichen Wahrnehmung der Mystery Plays in York. Diesem Beitrag zufolge waren die Mysterienspiele der nordenglischen Kathedralstadt weit mehr auf eine auditive als auf eine visuelle Perzeption ausgerichtet; die insgesamt überzeugende Argumentation muss freilich mit der Einschränkung leben, dass die spätmittelalterlichen Quellen zu den visuellen Aspekten (also dem Aussehen der Wagen für die einzelnen Stationen bei der Aufführung) ohnedies recht übersichtlich ausfallen, so dass deren Bedeutung schwieriger einzuschätzen ist. Interessant sind die Parallelen, die sich in Bezug auf das elisabethanische Theater ziehen lassen; hier erweist sich der Ansatz einer Überlegung zur sensorischen Performanz von Theater im Spätmittelalter besonders anschlussfähig.
Für die angelsächsische Zeit ist dieser Sammelband dicht ausgefallen und umfasst unterschiedliche Aspekte des Rahmenthemas. So überlegt Jonathan Wilcox an angelsächsischen Handschriften, welche Vorteile und Nachteile die Digitalisierung von Manuskripten insbesondere in Bezug auf den sensorisch fassbaren Teil ihrer Untersuchung - etwa bei der Frage nach der historischen Bindung - besitzt; eine Konzentration des Digitalisats nur auf den mit Schrift beschriebenen, visuell ansprechenden Pergamentteil macht manche Fragestellung nur schwer mit dem Digitalisat alleine beantwortbar. Haben nun aber die mittelalterlichen Zeitgenossen ihre Umwelt anders wahrgenommen als wir dies heute tun? Eric Lacey überlegt dies anhand von angelsächsischen Vogelnamen, deren Ursprung er insbesondere in einer intensiveren auditiven Perzeption der Tiere erkennt. Ob auch Pflanzen mit Sinneswahrnehmung ausgestattet gedacht wurden, fragt Michael D. J. Bintley am Beispiel der altnordischen Liederedda.
Melissa Herman verlässt den Fokus der meisten Beiträge auf der Textproduktion und widmet sich den Metallobjekten der Zeit; dabei gelingt es ihr, die andere, visuelle Wahrnehmung dieser Objekte zu erschließen, die durch unterschiedlichen Lichteinfall und reiche Ornamentierung einen sehr eigenständigen Stil aufweisen, der von der heutigen Wahrnehmung als Museumsobjekt unterschieden werden muss. Ähnlich reflektiert Meg Boulton unter Rückgriff auf eigene Arbeiten die Bedeutung sinnlicher Erfahrung beim Verständnis der (nicht nur) angelsächsischen Architektur, die bei Beda Venerabilis als iuxta morem Romanorum charakterisiert wird. Patricia Skinner überlegt mit Blick auf frühmittelalterliche Rechtstexte, inwiefern hier Abstufungen von Behinderungen der Sinnesorgane behandelt werden; ihre Beobachtungen legen offen, dass die Rechtstexte nicht immer konkrete, sondern oft hypothetische Fälle im Blick hatten. Die Behinderung des Sinnesorgans selbst war dabei nur ein Aspekt des Problems, da sie in der Regel zugleich einen sozialen Makel darstellte.
Richard North geht der Bedeutung der Sinneswahrnehmung im "Seefahrer" nach, um diese Dichtung schließlich von den offensichtlichen christlichen Vorlagen ein stückweit zu entfernen und stärker in einem nordisch-skandinavischen Mentalitätshintergrund zu verorten. Eine ähnliche Analyse nimmt Pete Sandberg für das isländische Gedicht "Sólarljóđ" aus dem 13. Jahrhundert vor. Durch genaue Betrachtung der Hinweise auf die Schreibtechniken, wie sie etwa in der Interpunktion und dem Gebrauch von Versalien durchscheint, kann Simon C. Thomson letztlich nicht entscheiden, ob angelsächsische Texte bei ihrer Anfertigung gesummt oder gesungen wurden. Wörter standen jedenfalls in einem Spannungsfeld zur beschreibenden Realität, wie Victoria Symons und Francesca Brooks anhand von Rätsel- und Zaubertexten zeigen; dabei erhielten Objekte zugleich eine Stimme, indem sie sich selbst beschrieben. Hier scheint sich die Verbindung zum Rahmenthema schließlich ins Metaphorische zu erweitern.
Ein wenig aufmerksamer hätte das Lektorat des Bandes ausfallen können (etwa Doppelung der Zeilen S. 44/5). Irreführend bleibt jedoch vor allem der Titel des Bandes. Statt den mittelalterlichen Westen insgesamt zu beschwören, hätte ein Verweis auf das angelsächsische England im Titel dem Leser unnötige Enttäuschung erspart. Dieser Sammelband konnte ein solch großes Thema jedenfalls nicht stemmen, wenngleich einige Beiträge interessante Überlegungen dazu eröffnen.
Romedio Schmitz-Esser