Sabrina Nowack: Sicherheitsrisiko NS-Belastung. Personalüberprüfungen im Bundesnachrichtendienst in den 1960er-Jahren (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968; Bd. 4), Berlin: Ch. Links Verlag 2016, 524 S., ISBN 978-3-86153-923-0, EUR 45,00
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Sicherheit war und ist beim Bundesnachrichtendienst (BND) ein hohes Gut. Dies gilt zumal für das Jahr 1962, als Teile des Diensts durch einen der größten Spionagefälle des 20. Jahrhunderts fast gelähmt waren, der Causa Felfe. Über Jahre hatte eine Gruppe ehemaliger SS-Offiziere um - ausgerechnet! - den Leiter des BND-Referats "Gegenspionage Sowjetunion", Heinz Felfe, für den KGB gewirkt. Im November 1961 wurden die Agenten enttarnt, was den bundesdeutschen Auslandsgeheimdienst zu einer Sicherheits-Offensive zwang; dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden nun auf verschärfte Wachsamkeit eingeschworen. Und so informierte ein Mitarbeiter mit dem Decknamen (DN) Trenk weisungsgemäß den Sicherheitsbeauftragten darüber, was ihm in der Silvesternacht des Jahres 1962/63 widerfahren war: Trotz eindeutiger Vorgaben in der Verpflichtungserklärung eines jeden BND-Angehörigen und der Ermahnungen der letzten Monate hatte sein Kollege Herbert Kukuk private Telefonate mit anderen Angehörigen des Diensts geführt, deren Ohrenzeuge DN Trenk geworden war. Trenk, der aus dem Umfeld des 20. Juli stammte, beschwerte sich nicht nur über diesen Verstoß, sondern vor allem über die Personen, mit denen der ehemalige nationalsozialistische Gauredner und Gauamtsleiter Kukuk geplauscht hatte.
Einer der beiden Angerufenen war der ehemalige SS-Obergruppenführer, stellvertretende Reichsjugendführer der Hitlerjugend und NSDAP-Gauleiter von Süd-Hannover-Braunschweig, Hartmann Lauterbacher. Lauterbacher war einer der unappetitlichsten hauptamtlichen Mitarbeiter des BND mit NS-Vergangenheit, der sowohl am Holocaust wie der Ermordung alliierter Flugzeugbesatzungen beteiligt gewesen war, aber dem Galgen durch seine Zuarbeit für alliierte Geheimdienste entging. Für die Organisation Gehlen, dem Vorläufer des BND, arbeitete er spätestens seit 1950, war aber mittlerweile ebenfalls in Verdacht geraten, für den Feind im Osten unterwegs zu sein.
Trenk gingen diese Netzwerke unbelehrbarer Alt-Nazis im Dienst gehörig gegen den Strich: Er habe in den drei Jahren seiner Tätigkeit fast nur mit "dieser Nazimischpoke" zu tun gehabt und von dieser "braunen Pest die Nase restlos voll" - eine Unmutsbekundung, mit der er nicht allein stand. Bundesregierung, Bundeskanzleramt und die Spitzen der Oppositionsparteien diskutierten zu dieser Zeit, wie mit den braunen Altlasten in den Sicherheitsbehörden umzugehen sei, denn auch der Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt sowie die Ämter der jeweiligen Länder hatten mit den gleichen Problemen zu kämpfen: nationalsozialistische Netzwerke, die nicht nur schlecht in die neue Demokratie passten, sondern auch und vor allem Einfallstore für östliche Dienste bildeten. Dem Bundesnachrichtendienst wurde im Sommer 1963 aus Bonn zur Auflage gemacht, das hauptamtliche Personal auf seine Beteiligung an nationalsozialistischen Gewaltverbrechen zu überprüfen und gegebenenfalls aus dem Dienst zu entfernen.
Mit dieser BND-internen Untersuchungskommission befasst sich die Dissertation von Sabrina Nowack, von 2011 bis 2016 Leiterin der Koordinationsstelle der Unabhängigen Historikerkommission (UHK) zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendiensts und Doktorandin bei Wolfgang Krieger an der Universität Marburg. Ihre Arbeit ist mit Spannung erwartet worden, hatte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin der UHK doch einen umfassenden und privilegierten Zugang zum Archiv des Bundesnachrichtendiensts. Sie konnte verifizieren, wer von den Mitarbeitern des BND tatsächlich eine braune Vergangenheit hatte - verschiedene, teils anonymisierte Listen kursierten bereits im Internet [1] - und wie umfassend und konsequent dieser die Aufgabe der Säuberung bewältigte.
Diese "zweite Entnazifizierung" (Peter Carstens) ist ein vielschichtiges Thema, das mit seinen innenpolitischen, aber auch sicherheitspolitischen Aspekten durchaus auch eine Habilitation hätte füllen können. Nowack konzentriert sich daher auf die nach den Vorgaben aus Bonn 1963 aufgestellte Untersuchungskommission, die "Organisationseinheit 85" des BND (kurz Org 85) und den von ihr geprüften, "besonderen Personenkreis". Es handelte sich um 157 männliche hauptamtliche Mitarbeiter, die sich bis 1945 in der NSDAP, der Gestapo, im Reichssicherheitshauptamt sowie in SS und SD hervorgetan hatten. Personen, die der Waffen-SS oder der Wehrmacht angehört hatten, oder NS-Belastete, die nur als nebenamtliches Personal oder Quellen dienten, standen dagegen nicht zur Überprüfung an.
Nach einem umfassenden einleitenden Teil über die Situation im Jahr 1963 beschreibt Nowack das Vorgehen der Org 85 und die (sicherheits-)politischen Vorgaben anhand ausgewählter Fallstudien. Die 157 Mitarbeiter mussten ihre individuelle Verstrickung in das NS-Regime in einem ausgeklügelten Fragebogen offenlegen, der dann von den Angehörigen der Org 85 in Kooperation mit den Justizbehörden, aber auch den Partnerdiensten auf eine Verbrechensbeteiligung oder auf unklare Angaben genauestens untersucht wurde. Ebenso wichtig für die Einstufung als Sicherheitsrisiko: Informationen zur Kriegsgefangenschaft und familiäre und persönliche Kontakte in den Ostblock. Trotz der zum Teil massiven Belastung durch Beteiligung an Völkermord und Kriegsverbrechen musste am Ende nicht einmal die Hälfte der Betroffenen den BND verlassen. Die 61 Mitarbeiter wurden in der Regel außerdem noch durch zum Teil "horrende" (322) Abfindungen und Hilfe bei der beruflichen Neuorientierung aufgefangen oder gingen in den Vorruhestand. Wer bleiben durfte, wurde häufig versetzt und musste einen Karriereknick hinnehmen. Entscheidend war hier nicht der Grad der NS-Belastung, sondern die Frage, inwieweit der Mitarbeiter ein Sicherheitsrisiko darstellte, ob er seine Leistung brachte und ob er ersetzbar war. So wurde auch entlassen, wer sich als Fehlbesetzung erwiesen hatte.
Die von Nowack im Anhang aufgeführten 157 Biografien des "besonderen Personenkreises" sind eine wahre Fundgrube, die selbst mit der Materie vertrauten Forscherinnen und Forschern Neues bieten können. So wirkten in Pullach nicht nur untergeordnete NS-Funktionäre, mediokre Blutordensträger und Chargen aus dem Gestapo-Mittelbau, sondern auch Personen, die allein wegen ihrer Funktionen im NS-Regime nie in einem Geheimdienst der Bundesrepublik hätten verwendet werden dürfen. Zu diesen gehörte etwa der ehemalige Leiter der Staatspolizeistelle Wien, Franz-Josef Huber. Der Heydrich-Protegé hatte nicht nur sieben Jahre lang die größte Gestapoleitstelle des Deutschen Reichs geführt, sondern war unter anderem mit Adolf Eichmann an der Deportation der jüdischen Bevölkerung Wiens beteiligt gewesen. 1957, nach der Überführung der Organisation Gehlen in den Bundesdienst, trat Huber unter dem Decknamen Hahn in den BND ein und brachte es sogar bis zum Hauptstellenleiter.
Der Fall von Dr. Peter Kleist war nicht minder gravierend. Der SS-Führer und Jurist gehörte als Ost-Experte Joachim von Ribbentrops zur intellektuellen Elite des "Dritten Reichs". Bis 1945 war er in vielfältigen Funktionen vom Sicherheitsdienst der SS bis zum Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete tätig. 1957 fand er unter dem Decknamen Riederer zum BND. Zu dieser Zeit hatte sich Kleist als rechtsextremer Journalist und Buchautor bereits einen Namen gemacht. In der Neo-Nazi-Szene blieb Kleist auch während seiner Zeit beim BND tätig: So gehörte er unter anderem 1960 zu den Mitbegründern der NPD-nahen Gesellschaft für freie Publizistik. Für den BND war dieses Engagement als rechtsradikaler Multiplikator offenbar kein Problem, zumal sich auch andere hauptamtliche Mitarbeiter mit Wissen ihrer Vorgesetzten in der NPD oder rechtsextremen Veteranenverbänden tummelten.
Welche Auswirkungen mögen Weltbild und politische Verortung der Mitarbeiter des "besonderen Personenkreises" auf den geheimdienstlichen Alltag, auf seine Aufklärungsergebnisse und Analysen gehabt haben? Diese Frage stellt man sich nicht erst bei Durchsicht der 157 Biografien. Und hier liegt eine der (wenigen) Schwächen der Dissertation. Die Autorin nennt zwar die nachrichtendienstlichen Funktionen der NS-Belasteten, aber Leserinnen und Leser erfahren nur wenig über ihren tatsächlichen Einfluss auf Informationsbeschaffung und Auswertung. Waren die Belasteten randständige Zuarbeiter oder wirkten sie meinungsbildend? Spannend wären auch einige Fallstudien gewesen, inwieweit die Sicherheitslage auch für Spionage- und Gegenspionage-Szenarien genutzt wurde. Erich Deppner zum Beispiel, zeitweise KZ-Kommandant von Westerbork, war durch einen östlichen Überläufer als möglicher sowjetischer Agent belastet worden. Der sich über Jahre hinziehende Prozess seines Ausscheidens inklusive zeitweiser Überwachung war auch dem Umstand geschuldet, dass man in Pullach klären wollte, ob eine gezielte östliche Desinformation vorlag oder es sich bei Deppner um einen weiteren KGB-Agenten handelte. War dies nur ein Einzelfall oder gab es diesen besonderen Sicherheitsaspekt auch bei den anderen Belasteten?
Trotz der kleinen kollegialen Mäkelei am Schluss: Sabrina Nowack hat mit ihrer verdienstvollen Dissertation eine erste und beachtliche Schneise durch das Dickicht von NS-Belastung und Kaltem Krieg, Spionage und Gegenspionage, Propagandakampagnen und Desinformationsoperationen geschlagen. Eine weitere Studie dazu ist angekündigt.
Anmerkung:
[1] Angehörige von NS-Diensten im BND (https://marjorie-wiki.de/wiki/Angeh%C3%B6rige_von_NS-Diensten_im_BND), abgerufen am 20.8.2017; BND "Ein besonderer Personenkreis" (www.faz.net/aktuell/politik/inland/bnd-ein-besonderer-personenkreis-1927112.html, abgerufen am 17.8.2017).
Susanne Meinl